Motorradfahren als Schmerz-Therapie? Nun, wenn es richtig weh tut, versucht man wohl alles .. Eine Geschichte aus 2006.
Kopfschmerz – eins von den Dingen, die wirklich niemand braucht. Mein Schmerz kommt aus dem Nichts und fesselt mich ans Nichts. Eine Therapie gegen Cluster-Kopfschmerz gibt es – noch – nicht; er kommt nicht ganz unvermittelt, aber auch wenn ich mich auf ihn vorbereiten kann – er kommt immer zum falschen Zeitpunkt.
Ende Oktober 2006. Der kalte Geruch einer selbst gemachten, aber wegen Schmerzen ungegessenen Pizza waberte über mein Kopfkissen und weckte mich mitten in der Nacht mit einer herben Knoblauch-Note. Was mich dazu bewog, ins Leder zu schlüpfen und Rache an meinem, trotz Unmengen am Vorabend geschluckter Schmerzmittel überraschenderweise klarem, Schädel zu nehmen.
Rache
an meinem Schädel
Ich fühlte mich etwas ungelenk im lange nicht getragenen Leder. Über einen Monat lang hing es dank meines speziellen Kumpels im Kopf ungefahren im Kleiderschrank. Die Handschuhe waren starr und klamm, in den Stiefeln wohnte eine etwas schräge Spinne. Naja, wohnte.
Noch in der Nacht startete ich den Desmo und zog, keine Minute später, eine mächtige, zweistrahlige Kondensfahne hinter mir her, in Richtung Süden. Das Knacken meiner starren Knochen ging im Rasseln der Kupplung unter, im Konzert der unharmonisch klingenden Töne rockten die kalte Gabel, die verrostete Schwingenachse und die trockene Kette eifrig mit. Der Klang von sich auflösendem Flugrost auf den Bremsscheiben war die letzte Note in der Kackophonie eines kalten Motorrads, dann übernahm der kräftig im Futter stehende Desmo und beschleunigte mich ..
In Richtung
Stilfser Joch
Es trug mich durch Prad auf die bitumenbemalte Straße entlang des Suldenbaches. Die Feuchtigkeit schlug sich auf dem Visier nieder, die Kälte machte Kristalle draus. In Gedanken war ich bei einer meiner ersten Fotofahrten: im Januar an den Reschensee, über Schnee und Eis, für ein Bild der Ducati im Schnee .. Ich freute mich am frisch aufgezogenen Vorderreifen – damit war es mir ein Leichtes, die im Vergleich zur Supermoto doch etwas schwerfälligere 748 durch das Geschlängel zu schwingen, ein Auge ständig auf der Suche nach einem trockenen Pfad.
Die ersten paar Kilometer haben einen eigenen Reiz – und sie haben es in sich. Sie sind über weite Strecken neu asphaltiert und gut ausgebaut. Man kann sich bereits hier in einen Rausch fahren oder umgehend merken, dass Motorradfahren an diesem Tag nicht klappt. Ich fühlte mich gut und lebendig an diesem Morgen, trotz wenig Schlaf. Die Kälte fand noch keinen Weg in mein Leder, auch nicht auf dem schnellen Stück nach Gomagoi, auf dem die Ducati erstmals über 8.000 U/min drehen durfte, um das Landstraßenlimit zu doppeln.
Ich passierte Trafoi, die letzte Ortschaft vor dem Stilfser Joch. Auch hier brach der V2 die morgendliche Ruhe mit seinem Rasseln und Poltern, und ich schraubte mich durch den Wald die Kehren hoch, bis zum „Weißen Knott“.
Der Straßenbelag war mittlerweile abgetrocknet, ein kräftiger Luftzug blies die abgefallenen Nadeln der Bäume in die Ecken, hinter mir erhob sich langsam die Sonne in den Himmel. Innerhalb weniger Minuten veränderten die Bäume ihre Farbe, wurde der Asphalt kontrastreicher – ich geriet in leichte Zeitnot für mein Vorhaben, den Sonnenaufgang auf 2.800 Metern Meereshöhe zu erleben.
Wieder suchte ich meine Linie – diesmal durch zahlreiche Steine, die in der Nacht auf die Straße gefallen waren. Die eifrige Bautätigkeit der Murmeltiere zwang mich zu leichten Offroad-Einsätzen.
Kurz vor „meiner“ Kehre, in der ich in so vielen Jahren immer mal wieder meinen Gedanken nachgegangen bin, blieb ich ein weiteres Mal stehen. Es gibt beinahe jeden Tag irgendwo einen Sonnenaufgang – dieser hier aber war speziell. Speziell durch die Mischung von schwarz, grau, blau und weiß .. Licht hat eine unglaubliche Kraft – und in diesem Moment, in dem das Licht die Nacht beiseite schob und alles in seine Helligkeit tauchte, glaubte ich, diese Kraft zu spüren.
Licht hat
eine unglaubliche Kraft
Diese Mischung aus Kälte, neuem Licht, dem Geruch von feuchten Bäumen und dem sich wärmendem Leder löste das dumpfe Pochen hinter meinen Schläfen ein wenig auf, es wurde leiser, langsamer. Motorradfahren als Therapie, das sollte vom Arzt verschrieben werden.
Nach einigen Minuten des Innehaltens schwang ich mich auf die vor sich hin knisternde Ducati. Ich war bereits weit oberhalb der Baumgrenze unterwegs, meine Kräfte ließen in der dünner werdenden Luft mehr und mehr nach – die starken Schmerzmittel der letzten Nacht taten ein Übriges. Durch die Nase bekam ich schon seit einiger Zeit nicht mehr genügend Luft, beim Ausatmen durch den Mund beschlugen Visier und Brille schlagartig.
Also musste das Visier offen bleiben. Die Minusgrade der einschlagenden Luft schmerzten heftig an Nase und Zähnen, aber dennoch – der eisige Fahrtwind war angenehm auf Stirn und Schläfe. Auch wenn mein Auge tränte, die Kälte ließ mich den Schmerz der vergangenen Nacht vergessen.
Motorradfahren
als Therapie
Nochmals lenkte ich die Ducati auf Schotter und setzte mich auf eine Mauer. Drehte ich meinen Kopf, konnte ich die Passhöhe erkennen – nur noch wenige Kehren lagen vor mir. Das Losfahren auf der steilen Straße war nicht mehr so einfach – die Kälte hatte mir das Gefühl aus der Kupplungshand getrieben, das Zirkeln um die schneeverwehten Kehren geriet zu einem kräfte- und konzentrationszehrenden Unterfangen.
Alleine fand ich mich schließlich ganz oben wieder. Ich drehte die 748 in Richtung Sonnenaufgang und befreite mich von Helm und Sturmhaube. Im Tal breitete sich ein Wolkenmeer aus, über mir öffnete sich der dunkle Himmel und füllte sich mit einem eiskalten Stahlblau.
Der Ortler, rechts von mir und immerhin nochmals 1000 m höher als das Stilfser Joch, versteckte seinen Gipfel in einer dunklen Wolke – aber die Sonne schob sich unnachgiebig durch das den Gipfel umhüllende Weiß.
Ich beobachtete das Schauspiel eine Weile – bis sich die Kälte durch das Leder meines Hosenbodens gefressen hatte. Irgendwann entließ das Hotel „Passo Stelvio“ die ersten Skifahrer, die sich und ihre Bretter in die Seilbahn warfen und auf den Gletscher entschwanden.
Wohltuende
Kälte
Ich versteckte meine Hände im Inneren meiner Lederkombi, wärmte sie an mir. Nur kurz blies ein eisiger Wind über den Pass und wehte mir frisches Eis ins Gesicht – es blieb auf der Gläsern meiner Brille haften und hinterließ beim Schmelzen filigrane Spuren. Die Sonne überzog die Landschaft mit immer hellerem, immer wärmeren Licht.
Ein zu Beginn kaum fühlbarer Schmerz kroch langsam meinen Nacken hoch und suchte sich einen Weg durch den Hinterkopf. Meine spezielle Therapie ließ mit steigenden Temperaturen in ihrer Wirkung nach. Leichte Wellen von dumpfem Schmerz gruben sich an meinem Innenohr vorbei und nisteten sich – wie so oft in den letzten Tagen – hinter meinem linken Auge ein. Willkommen zurück, mein größter Feind ..
Ich schluckte eine weitere Schmerztablette und rollte unter 48mal zunehmendem Schmerz zurück ins Tal, ins drogenvernebelte Nichts ..