
Was antwortet ein Extrem-Bergsteiger auf die Frage, warum er sich genau auf diesen einen Berg quält? Wahrscheinlich „weil er da ist“. Oder „weil ich es kann“. Federico Rossi ist querschnittsgelähmt und „kann“ vieles nicht. Aber das Stilfserjoch ist „da“ – er hat sich im Rollstuhl hoch gequält.


Was geht in einem 14jährigen vor, der eines Tages seine Beine plötzlich nicht mehr spürt, wegen eines Virus – mag man sich das vorstellen? Kann man sich das überhaupt vorstellen? Ich kann es nicht, wage es nicht. Ich habe einen Sohn in dem Alter, und die Gedanken, dass ihm etwas Ähnliches zustoßen könnte, sind unaushaltbar. Mit diesen Gedanken im Kopf bin ich nach Trafoi gefahren, der letzten Ortschaft vor den berühmten Kehren des Stilfserjochs, und werde dort auf einen Mann treffen, den genau dieses Schicksal ereilt hat.
Aus dem 14jährigen Federico Rossi, dem eine Krankheit die Hälfte seines Körpers nahm, ist mittlerweile ein 28jähriger Athlet geworden, und er will sich heute einen Traum erfüllen: es bis ganz nach oben schaffen, das Stilfserjoch mit dem Rollstuhl bezwingen. Auf einem Parkplatz in Kehre 46 treffe ich auf seinen Vater, er erzählt mir vom Plan seines Sohnes, führt mich um das Begleitfahrzeug, zeigt auf Sponsoren und Aufkleber. Ist unglaublich stolz.
Das Stilfserjoch ist nicht irgendein Pass. In Italien geht es nicht höher hinaus, nach dem Col de l’Iseran in Frankreich ist das 2757 m hohe Stilfserjoch der zweithöchste asphaltierte Alpenübergang. Der Pass startet auf 915 m Höhe in der Ortschaft Prad, es sind 25 km Strecke und über 1800 Höhenmeter zu überwinden. Und daran verzweifeln jeden Tag unzählige Auto-, Motorrad- und Radfahrer. Zuwenig Fahrkönnen, zuviel Stress und Selbstüberschätzung sind gern Feinde der motorisierten Fahrt, oder eben das fehlende letzte Quäntchen Fitness bei den Sportlern.
Federico rollt heran, ein muskulöser Oberkörper drückt sich sein neongelbes Trikot. Die mächtigen Oberarme machen neidisch, er trägt einen geflochtenen Zopf, Ohrringe und eine Stars and Stripes-Bandana. Sein Lächeln ist herzlich, er reicht mir die Hand und drückt ordentlich zu. Ich werde ihn heute mit dem Motorrad begleiten, ihn von hinten absichern, ihn vor allem vor meinesgleichen auf zwei schnellen Rädern schützen.
Ich bin bereits maximal beeindruckt. Federico hat bis hierhin schon einige Kilometer in den Oberarmen, wirkt erstaunlich frisch und entspannt, strahlt mit wachen Augen. In der Kehre 46 nimmt er nach einer kurzen Stärkung und einer innigen Umarmung seiner Partnerin Giada, die ihn zu Fuß begleitet, seinen Weg wieder auf.
Ich betrachte seinen Bewegungsablauf, die Arbeit seiner Arme und seines Rückens. Das Gestell seines Rollstuhls besteht aus Magnesium, Sitzfläche, Räder und Handlauf aus Kohlefaser. Federico trägt gummibeschichtete Arbeitshandschuhe für optimalen Grip am Carbon.
Kraftvoll drückt er sich um die Kehren, jeder Push seiner Arme hebt die kleinen Vorderräder vom Asphalt. Auf einem relativ flachen Abschnitt dreht er sich spontan zu mir um und stellt Fragen über mein Motorrad. Er löst sich von seiner Konzentration, spricht entspannt und ohne Atemnot, wir führen ein längeres Gespräch. Eins von mehreren auf dem Weg nach oben.

Go, Federico, Go!
Foto: Daniele BaioFederico rollt mit 3 bis 4 km/h dahin. Mit meinem Fahrrad war ich vor einigen Jahren beim Versuch, mir das Stilfserjoch-T-Shirt zu erfahren, nicht schneller. Dass es im Rollstuhl kein gleichmäßiges Tempo wird, dass es keinen runden Tritt gibt, sondern immer ein Anschieben und wieder langsamer werden, das schmerzt beim Zusehen. Der Bewegungsablauf ist eben der, der er ist: Schub mit den Armen, Druck aus dem Rücken, sieht anstrengend aus.
Vor Federico liegen die steilsten Brocken des Stilfserjochs – die Anstiege zwischen den Kehren 44 bis 36 sind bitter. Am härtesten kämpft Federico beim „Weißen Knott“, gefühlt bremst ihn die Steigung nach jedem Push. Giada geht ruhig neben ihm her, filmt und berichtet für seine Comunity.
Und dann will Federico, während es in einer Kehre einen Stein aufhebt und in den Wald wirft, von mir wissen, ob ich noch genügend Ladung im Akku meiner SR/F habe … er hat tatsächlich noch die Muse, sich Gedanken um meine Batterie zu machen. WAS für ein Typ!
Hinter dem Weißen Knott wird der Wald lichter, der Blick in die Höhe ist von Regenwolken versperrt. Natürlich halten sie ihr Nass nicht lange bei sich, schon weit unterhalb der Franzenshöhe beginnt es zu nieseln. Giada zieht ihm warme Beinlinge über die Füße, Federico bittet um ein weiteres Paar Baumwoll-Handschuhe, für drunter.

Laughing, all the way up to the finish line
Foto: MotorProsaDas Video- und Fototeam umkreist uns ständig, aber Federico behält seinen Rhythmus eisern bei. Oberhalb der Franzenshöhe sehe ich ihn im Flow, die langen Distanzen zwischen den Kehren arbeitet er stumm und in sich gekehrt ab. Der Nebel wird dicht, die Temperatur sinkt auf 3 Grad – es beginnt zu schneien.
In Kehre 5, das Ziel schon in Sicht, stoppt Federico und atmet schwer. Seine Eltern, Giada, der Fotograf und das Video-Team sind schon vorausgefahren. «Ci siamo quasi» – „Bald haben wir es geschafft“, sagt er. Der letzte Kilometer wird schwierig. Mehrmals bleibt Federico stehen, schreit sich den Schmerz aus den Lungen, schüttelt die Krämpfe aus den Armen. 500 Meter vor dem Ziel dreht er sich nochmals zu mir: «Ormai sono un pò stanco.» – „Jetzt bin ich wirklich etwas müde …“
Motorradfahrer tauchen aus dem Nebel auf – ein gutes Dutzend fährt vom Pass ins Tal. Alle hupen, recken ihre Daumen nach oben, rufen „Go! Go! Go!“, tragen so Federico weiter. Die Passhöhe ist endlich erreicht, und leer – für einen Moment gehört die Cima Coppi Federico Rossi ganz allein. Im eisigen Regen reckt er einen symbolischen Grenzstein in die Höhe und widmet seinen Traum „denjenigen, die unter viel schwereren Behinderungen leiden als ich und keinen Sport treiben können“.

«Ora ho fatto pace con la sedia a rotelle» –
„Heute habe ich meinen Frieden mit dem Rollstuhl gemacht“
Foto: MotorProsaFederico Rossi ist 28 Jahre alt und lebt im italienischen Schio. Seit einer Virus-Erkrankung ist er gelähmt. Nach hartem jahrelangem Training, täglich und bei jeder Witterung, ist er am 24. September 2022 über die berühmten 48 Kehren auf das Stilfserjoch gefahren. Als erster Rollstuhlfahrer.
Mehr von ihm gibt’s auf seinem Instagram-Profil @federico_w_rossi und auf seiner Facebook-Seite.
mir bleibt auch nichts anderes übrig, als meine Hut, den größten den ich habe vor dieser Leistung zu ziehen. Da auch ich das Stilfser Joch, wohl mit dem Rennrad und noch viele andere Pässe ( insgesamt 45 ) gefahren bin, frage ich mich, was für ein unbändiger Wille vorhanden war, dies mit dem Rollstuhl zu schaffen….
Nochmals, mein allergrößter Respekt für diese Leistung
Paul
Bin oft genug mit dem Motorrad das Stilfserjochs hoch und runter gefahren. Die Strecke ist anspruchsvoll auch wenn man körperlich auf dem Motorrad eher wenig zu machen hat.
Die Strecke aber mit dem Rollstuhl zu befahren entzieht sich meiner Vorstellungskraft.
Ich ziehe meinen Hut vor Federico. Das ist Geistig wie Körperlich eine Höchstleistung!
Marco,
Du nimmst mir die Worte quasi aus dem Mund. Beim Hinterherfahren war ich ohne Ende geflashed vor dieser Leistung. Irre!
Servus Jürgen,
überaus beeindruckend, was manchen zu leisten in der Lage sind. Da gehört ein eiserner Wille und auch eine ordentliche Leidensfähigkeit dazu, sich diese Kraftausdauer zu erarbeiten. Super!
Danke für den interessanten Artikel und liebe Grüße,
Karim
Tolle Leistung!