Stilfser Joch – 48 magische Kehren

MotorProsa: Blick vom Stilfser Joch in's Tal
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Das Stilfser Joch. Passo dello Stelvio. Cima Coppi, wegen einer Heldentat eines italienischen Rennrad-Fahrers. Meine Hausstrecke seit 30 Jahren, meine Muse, mein Drama. 48 Kehren, der höchste Gebirgspass Italiens – und das alles direkt vor meiner Haustür. Das ist doch Top!

Das Symbol von MotorProsa: die Füllfeder. Motorrad-Geschichten, geschrieben mit Passion

Das Stilfser Joch ist der Superstar unter den Alpenpässen, der höchste Rummelplatz Europas und das wahrscheinlich irrste Verkehrschaos in den Alpen. Einst führte nur ein Saumpfad übers Joch, und auf ihm schwitzen schon die Römer – gut, das will nichts heißen, denn die waren wirklich überall. Später gingen Salz aus Hall in Tirol und Wein aus dem Veltlin über den Pass. Gesoffen wird immer.

Trotz der Höhe von knapp 2760 Metern steigt die Straße im Schnitt mit nur 10 % an. Die Kriegstreiber der frühen Jahrhunderte wollten mit Schwermetall hoch und ließen um 1800 die Trasse so flach wie möglich bauen. „Nur 10 %“ und „flach“ muss man allerdings relativieren – mit dem Fahrrad leidet man irre Qualen.

Gefühlte 34 Vegetationszonen werden auf dem Weg in die Höhe passiert – vorbei an Apfelplantagen, vermoderten Erdrutschen, fast leeren Dörfern mit toten Skiliften, durch Engstellen und dichte Wälder mit neugierigen Rehen schleichend, unter respekteinflößenden Felsformationen hindurch. Einige Kuppen und Dellen in der Straße sind seit Jahren die selben, manche sind verschwunden, neue kommen ständig hinzu.

Alte,
 italienische Farbe

Beim Schwingen durch die Kehren frage ich mich immer wieder, welche Farbe die Giro d’Italia-Fans wohl für das Beschriften der Straße verwenden – ihre Slogans verbleichen einfach nicht. Berühmte Namen, als Graffiti in die Serpentinen gesprüht, trotzen im Winter zweistelligen Minusgraden und meterhohem Schnee. Radfahrer-Dramen begleiten auf jedem Meter, leere Gel-Tuben und Powerriegel-Verpackungen ebenfalls, garniert mit Bruchstücken von Motorradblinkern und -spiegeln.

MotorProsa: Kunstwerk Stilfserjoch - 48 Kehren durch den Fels

Kunstwerk Stilfser Joch – 48 Kehren durch den Fels

Es gibt einige kleinere Parkplätze, um dem Treiben, dem Schinden und dem Fallen zusehen zu können – manchmal lass‘ ich mich auf den warmen Steinen nieder, um die Bergriesen vis-à-vis zu betrachten und mir klar zu werden, was für ein winziges Sandkorn ich im Getriebe der Welt doch bin.

Franzenshöhe – ein Tennisplatz mitten im Hochgebirge. Verlebt zwar und rostig eingezäunt, aber immerhin. Kaiser Franz (der Fußballer vielleicht auch ..) hat hier oben genächtigt – und alles immobile, in dem ein österreichischer Kaiser mal sein Haupt niederbettete, bekam dessen Namen. Ganz oben auf dem Stilfser Joch verbrachte auch mal ein Ferdinand seine Nacht – das erste Hotel am Platz trug daher den Namen „Ferdinandshöhe“.

Wenn sich das
 Stilfser Joch ein Motorrad holt

Die Landschaft wird karg. Murmeltiere räumen ihre Stützmauer-Lofts auf und kübeln Steine auf den Weg. Ab und zu liegt ein Pelz auf dem Rücken und wartet auf die Abholung durch den Bartgeier oder den Südtiroler Straßendienst, der schon morgens um fünf den Besen schwingt.

Egal wann, ob morgens um fünf oder nachmittags nach vier – man spürt, dass man hoch oben ist. Nach strengen Wintern liegen noch im August Schneefelder und das Motorrad saut sich richtig ein. Putzfimmel sollte man keinen haben und Querschläger beim Kehrenfahren nervlich verkraften können. Man sollte NICHT daran denken, dass im Alpengasthof Tibet Menschen ihre Nase an die Panorama-Fenster drücken und auf den Moment warten, in dem sich das Stilfser Joch ein Motorrad holt – das macht nur unnötig unrund.

Ob mit Auto, Motorrad oder Fahrrad: das Stilfser Joch ist die Krönung

Ob mit Auto, Motorrad oder Fahrrad: Der Stelvio ist die Krönung

Kurz vor der Passhöhe werden empfindliche Nasen die Abwasser der Hotelanlagen und die Schwaden der verbrannten Bratwürste riechen. Nach 48 Kehren, zweimal fußeln und zwanzigmal hoffen, dass der Linienbus nicht hinter dem nächsten Eck auftaucht, steht man ganz oben und findet keinen Parkplatz. Wundersam, der Ramsch der Kioske, und würde sich etwas zum Kaufen finden, man würde sich über den Preis dafür wundern. Man erblickt mitten im Sommer Skifahrer und erschrickt, weil man sich den Winter noch lange weit fort wünscht, man blickt ins Tal – und ist beeindruckt, immer wieder, auch nach dem Tausendsten Mal.

Ich liebe es,
 „mein“ Stilfser Joch

Es hat eine wunderbare Verwandlung durchgemacht. Zu Beginn meiner Fahrten war ich stets auf dem Weg der Vernachlässigung unterwegs: Streckenweise fehlten Teile der Straße, die hässlichen Betonklötze zur Absicherung des Abgrunds waren nicht immer vollzählig – mehr als einer lag, von Lawinen mitgerissen, unnütz auf kargem Grün. Um die Löcher im Straßenbelag kümmerte sich niemand, um die in den breiten Asphalt-Spalten verloren gegangenen Radfahrer auch nicht.

Nun findet sich selbst ganz oben frischer, glatter – also relativ glatter .. – Straßenbelag. Die unansehnlichen und der Königin der Alpenstraßen nicht gerecht werdenden Betonklötze sind in mühevoller Handarbeit gebauten Naturstein-Mauern gewichen. Die Engstelle am Weißen Knott ist nun fast dreispurig, und überall, wo es irgendwie möglich ist, wird ausgebessert und verbreitert.

Britische TV-Sender schickten ihre durchgeknalltesten Mitarbeiter mit Supersportwagen durch die 48 Kehren, um das Stilfser Joch anschließend zur Best Road of the World zu küren. Tausende von Freizeit-Radlern schinden sich am Radtag den für den motorisierten Verkehr gesperrten Berg hoch – von allen drei möglichen Seiten, Prad, Bormio und Sta. Maria in der Schweiz. Die ganz Harten laufen den Berg im Rahmen eines Marathons hoch. Ich selber mache mich mehrmals im Sommer frühmorgens auf dem Weg – ganz unsportlich mit dem Motorrad, um den magischen Sonnenaufgang zu erleben. Im Herbst 2018 dann meine ganz persönliche Premiere: Ich habe den Stelvio mit dem Fahrrad erobert.

Die Tibet-Hütte am Ende der höchsten Pass-Straße Italiens

Die Tibet-Hütte am Ende der höchsten Pass-Straße Italiens

Das Stilfser Joch wird wohl wieder als das geschätzt, was es ist: ein Meisterwerk der Ingenieurskunst mitten im Hochgebirge, ein Monument der Alpen, geschaffen von tausenden Arbeiterhänden in unzähligen Stunden –

Ein helles, geschwungenes Band
im Schatten des mächtigen Ortlers.

Das Symbol von MotorProsa: die Füllfeder. Motorrad-Geschichten, geschrieben mit Passion

Bestens dazu passend:

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