Neugierig durch den Vinschgau

MotorProsa: Neugierig durch den Oberen Vinschgau
Lesedauer // Reading time: 10 Min.

Den oberen Vinschgau im Westen Südtirols neu entdecken: von Laas in Richtung Reschensee, auf schmalen Wegen, verlassenen Pfaden, abseits von Zeitsparern und Effizienzsteigern. Auf der Suche nach neuen Blickwinkeln, Ideen und Eindrücken.

Das Symbol von MotorProsa: die Füllfeder. Motorrad-Geschichten, geschrieben mit Passion

Herbst 2020 – HomeOffice, Social Distancing, Familienleben via WhatsApp. Angenehme Temperaturen lassen auf der Terrasse die letzten Erdbeeren reifen – und deren Duft kämpft mit den Ausdünstungen des Gasgrills: kaltes Fett, Reste von verbrannten Zwiebeln und gerösteten Kartoffeln – der Geruch des vergangenen Sommers.

Im Nachbargarten wechseln Bäume ihre Farbe, Blätter fallen, weiter entfernt zünden Obstbauern Motorsägen und versenken ihre Ketten in ausgedientem Apfelholz. Im Badezimmer steht eine Waage, die dank Social-Frustfressing nicht mehr zwischen Männlein und Weiblein unterscheidet, dafür erinnert die App auf dem Handy an einen vollen Akku und an eine fahrbereite Zero SR/F.

Nutze den Tag
 und fahr!

Also raus! Besser wird’s nicht, im Gegenteil. Die Straßen leeren sich täglich mehr, immer mehr Menschen drücken sich vermummt an die Hausmauern, etwas Bedrohliches liegt in der Luft.


https://kurv.gr/tUDKR
Die gefahrene Strecke auf Kurviger – für Euch zum Nachfahren


Mein Wohnort Laas liegt in einem relativ schmalen Abschnitt im Vinschgau. Ob ich vorne oder hinten aus meiner Wohnung blicke, ich sehe immer auf einen Berg: vorne öffnet sich das magische Laaser Tal, in dem ich noch nie war, hinten raus breitet sich der Allitzer Schwemmkegel aus, darüber steigt der Tanaser Sonnenberg in die Höhe.

Beides Steilstücke, die auf dem Fahrrad gut Körner verlangen – für den Weg von Zuhause nach Parnetz (liegt rechts vom Eingang des Laaser Tals) brauche ich mit dem MTB eine halbe Stunde, und dann bin ich gut fertig.

Von Laas
 in die Höhe

Die Zero summt lautlos aus der Garage, ich lenke sie nach wenigen Metern nach Links in die Höhe. Der Vorderreifen hat vom vielen Bergab-Fahren im Sommer wohl eine Kante im Gummi, denn die Maschine taumelt leicht über den ersten Kilometer mit der brutalen Steigung am Ende. Unter dem am Berg stehenden St. Martins-Kirchlein, das von meiner Couch aus bestens zu sehen ist, halte ich mich nach rechts und rolle durch den Wald in Richtung Westen.

Der etwas mitgenommene Asphalt windet sich, zerfurcht und holprig, dem Berghang entlang, Kurve an Kurve, ohne nennenswerte gerade Stücke. Der Geruch von frisch geschnittenem Holz und modrigem Erdreich, das von zu Tal gezerrten Holz aus dem Hang gerissen wurde, vermischt sich mit den Güllefahnen, die von den wenigen noch nicht veräpfelten Wiesen weiter unten am Berghang in die Höhe steigt.

In den Wäldern oberhalb von Laas

In den Wäldern oberhalb von Laas

Der Weg ist mir bekannt, sein Verlauf fließt mir blind in den Lenker. Dutzende Male bin ich ihn mit dem Fahrrad gefahren, als Training für das nicht weit entfernte Stilfser Joch, denn rechnerisch ist die Steigung (knapp 10 %) die gleiche – bergwärts schleichend, talwärts brennend. Die Zero wackelt lautlos über die Spurrillen, knistert mit kleinen Steinen im Kotflügel, unterfährt das Gleis der historischen Laaser Schrägbahn, auf der einst tonnenschwere Marmorblöcke ins Tal glitten.

Nach nicht mal drei Kilometern öffnet sich der bis dahin dicht durchwachsene Wald, die kurzgeschorenen Wiesen des Parnetzer Hof-Ensembles geben den Blick in den Vinschgau frei: den stellenweise kahlen Sonnenberg entlang hoch in Richtung Mals bis zum schneebedeckten Watles, in der anderen Richtung über den Laaser Schwemmkegel hinweg.

Blick von Parnetz in den Oberen Vinschgau

Blick von Parnetz in den Oberen Vinschgau

Der flache Talboden, ca. 300 Meter tieferliegend, schickt orange-braune, geometrische Strukturen hoch. Die Obstplantagen haben für dieses Jahr ihren Zweck erfüllt, Millionen Bäume entsaften ihre Blätter und tauchen den gesamten zu überblickenden Landstrich in herbstliche Farben.

Hier oben ist man immer noch nahe dem geschäftigen Treiben, aber trotzdem schon so weit davon entfernt, dass es eine andere Welt geworden ist. Das weiß der sportliche Jüngling, der seine mit landwirtschaftlichen Nebenprodukten eingesaute Enduro ohne Helm und Handschuhe lautstark über einen Feldweg treibt, natürlich auch. Und schüttelt ob meiner lautlosen Zero amüsiert den Kopf.

Den schüttelt der alte Schäferhund, der sich bei meinem Vorbeifahren heftig erschreckt, auch – er ist aber weniger amüsiert, also schnell weg, bevor sich ein Gebiss im Kennzeichenträger verfängt. Es geht mit aktiviertem und Energie rückgewinnendem Eco-Modus zurück in Richtung Marmordorf.

Ich überlege es mir kurz zuvor anders und schlage den Weg in Richtung zweite Höfegruppe am Laaser Berg ein: Tarnell. Die Straße dorthin ist steiler, enger, wilder, die Leitplanken haben im letzten Winter arg unter fallenden Bäumen gelitten – und sie hat Serpentinen. Es geht höher hinaus als vorhin, die Ausblicke sind weiter, und irgendwann ist die Straße dann für die Weiterfahrt gesperrt. „Auch für E-Bikes“, steht handgeschrieben und mit Klebestreifen auf ein Durchfahrtverbots-Schild geklebt. 

Zeit für einen Blick in die Tiefe

Zeit für einen Blick in die Tiefe

Heute nutze ich die Stille hier oben für einen ausführlichen Blick auf mein Dorf, auf die schon erwähnte St. Martins-Kirche, auf die gleißend weiße Lagerstätte der Lasa Marmo.

Das Pfadfinden vor der Haustür geht weiter, denn an der Kreuzung Parnetz-Tarnell führt noch ein dritter Weg ins bisher Unbekannte. Drei spektakulär in den Berg asphaltierte Kehren bringen mich nach wenigen Augenblicken auf ein wunderbares, von einer mächtigen Felswand begrenztes Grasland, auf der mitten drin ein riesiger Findling liegt. Damit habe ich nicht gerechnet, nicht hier oben in der Wildnis des Laaser Waldes.

Ungewöhnliche Landschaft hinter dem Wald

Ungewöhnliche Landschaft hinter dem Wald

Beweis für die mittlerweile erstklassige Funktion der Eingreif-Software im Motorrad sind die schwarzen Striche, die das Elektro-Drehmoment bei der Hochfahrt auf die Fahrbahn malt – zwischen das feuchte Laub auf dem Asphalt. Zwingt mich zum Lächeln, beim Runterrollen.

Über den Sonnenberg
 nach Schluderns

Ich nehme die gegenüberliegende Bergseite in Angriff. Über den marmorgepflasterten Dorfplatz und unter die High-Speed Umgehungsstraße hindurch nehme ich die Steigung hoch nach Allitz in Angriff. Anschließend beginnt das Kurven- und Serpentinenspiel den trockenen und gut durchgewärmten Sonnenberg entlang, hoch über Laas und Eyrs hinweg bis nach Schluderns, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.

Es geht aufwärts – nach Tanas

Es geht aufwärts – nach Tanas

Einspurig, verwinkelt, verlassen und verlottert, ein Weg, mit dem ich viele Kindheits-, noch mehr Jugend- und extrem viele Erwachsenen-Erinnerungen verbinde. Dieser Pfad ist anfangs der Saison der erste und Ende der Saison der letzte befahrene, seit mehr als 25 Jahren. Die Ausblicke auf die Prader Sand, dem Mündungsdeltas des Suldenbachs, auf die Schludernser Au, die Sicht tief hinein in Richtung Stilfs und das Wissen um die hinter dem Berg versteckte Stilfser Joch-Straße zwingen mich zu mehreren Stopps und einigen Spaziergedanken.. immer wieder.

Bei Schluderns quere ich den Vinschgau erneut, rolle wieder über kleine Wege, den sog. Flugplatz, und stelle die Zero kurz danach auf die schnellen Kilometer bis nach Glurns. Der Speed und die noch schnelleren Kurven bis zum Eingang des Münstertals kosten ein paar Prozent Akkuladung, aber am Reschensee, dem geplanten nächsten Ziel, steht eine Ladestation bereit.

Sport-Modus. Und Heizgriffe auf „Low“ – es zieht ein wenig zwischen den Fingern. Touristen und Sonntagsfahrer haben den Vinschgau heute nicht auf den Schirm, die SS40 ist leer. Das Treiben spielt sich im restlichen Grün beidseits der Straße ab, Wanderer, Rinder und Greifvögel besiedeln die Malser Haide – und zwischendrin schießt sich eine stark an den Kilowatt saugende Zero SR/F stricheziehend durch die weiten Kehren. 190 Nm verschieben bekannte Motorrad-Dimensionen, und obwohl der Ladestand gefühlt sekündlich sinkt, ist eine Weiterfahrt an die Ladesäule nicht nötig.

Schräglage im Sport-Modus. Unterwegs in Richtung Reschen

Schräglage im Sport-Modus. Unterwegs in Richtung Reschen

Ich gleiche die etwas jenseitig des Gesetzes zurückgelegten Kilometer mit erneut ruhigem, von zahlreichen Foto-Stopps unterbrochenem Gleiten über die „Mult“ inkl. Zwischenhalt in Plawenn aus. Die Malser Haide, die von der SS40 auf wahrscheinlich kürzestem Weg durchschnitten wird, bietet zahlreiche landwirtschaftliche Pfade zurück ins Tal – und diese eröffnen frische Blicke auf den immensen Ortler und seine vergletscherten Nachbarn, über die vielen Türme von Mals, über die weite Ebene des sich ab Glurns ausbreitenden Vinschgaus.

Zeit, die vielen Eindrücke zu sortieren, bietet die nicht enden wollende Straße nach Prad, unterbrochen nur von einem Kreisverkehr mitten auf dem Lichtenberger Hügel. Früher ging’s hier immer volle Wäsche drüber, das war für die Anwohner wahrscheinlich eher unangenehm.

Stilfs –
der Ort des Jochs

Prad liegt am Eingang des Suldentales und ist das Tor zum Stilfser Joch. Auch von hier führen mehrere Wege, kurvig, steil, eng und herausfordernd in die Höhe, zu Berghöfen mit interessanten, manchmal unaussprechlichen Namen und zu Aussichtspunkten, die die eigene Heimat aus neuen Blickwinkeln zeigen. „So habe ich das noch nie gesehen“ – dieser Gedanke geht mir durch den Kopf, als ich von der gegenüberliegenden Talseite auf Stilfs blicke, den Ort, der meiner Hausstrecke den Namen gibt. Jahrelang bin ich unterhalb des Dorfes entlang gefahren – nun betrachte ich es von oben ..

Blick auf Stilfs, das Dorf, das meiner Hausstrecke den Namen gibt

Blick auf Stilfs, das Dorf, das meiner Hausstrecke den Namen gibt

Auf der Talfahrt begleite ich eine engagierte E-Bikerin, mache ihr den Weg durch die Kurven frei und verabschiede mich in Prad mit einem Fingerschnipp an meiner Fahrradklingel. Ich quere den Vinschgau erneut, bis knapp nach Spondinig, und wähle für den Rückweg nach Laas das Asphaltband durch die Apfelplantagen des – zumindest im Winter – Schattenorts Tschengls. Nach Erklimmen der auf dem Fahrrad gut in die Beine gehenden Steigung blicke ich von der Ortsmitte aus nochmal über die Weite des Vinschgaus, bevor mich die SR/F leise surrend die Etsch entlang wieder nach Hause bringt.

Zurück im Apfelgarten Vinschgau

Zurück im Apfelgarten Vinschgau

Quasi in Sichtweite meines Wohnorts habe ich ungefähr 100 km zurückgelegt, fast fünf Stunden beim Fahren, Fotografieren und Spazierendenken verbracht und mich dabei entspannt, bin zur Ruhe gekommen. Hat gut geklappt.

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2 Gedanken zu „Neugierig durch den Vinschgau“

  1. Immer wieder vergessen, aber nächste Woche werde ich endlich die Gelegenheit ergreifen um diese schöne Runde unter die Räder nehmen zu können!

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