Mit meinem Motorrad im Schnee

MotorProsa: Mit meinem Motorrad im Schnee
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Mitte November, mitten in den Südtiroler Alpen: Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, die Landschaft ist schneebedeckt. Glasklare Sicht, leere Straßen und ein vergilbter Foto-Abzug im Schreibtisch zwingen mich auf mein Motorrad.

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Ich wage nicht auszuatmen. Mein Helm spielt mit Belüftung rundum und zweiphasigem PinLock-Visier zwar alle Stücke, aber meine Brille bleibt davon unbeeindruckt. Eine halbe Lungenfüllung später läuft sie an und trübt meinen Blick – und das noch vor Verlassen der Tiefgarage. Es wird etwas kühl werden.

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Ob es heute kalt wird?

Die aus dem Heck dampfende und mit der Kupplung klappernde Ducati 748s bahnt sich ihren Weg durchs tiefgefrorene Laas. Eine Temperatur-Anzeige, die mich von meinem Vorhaben abbringen könnte, trägt sie nicht – und die hoffentlich wärmenden Sonnenstrahlen sind nicht weit entfernt.

Flach atmend geht es westwärts. Ziel ist mein Lieblings-Fotospot auf der Malser Haide, dem größtem Schwemmkegel der Alpen, mit einem irren, freien Ausblick auf die Berggipfel der Ortlergruppe. Bis dahin bietet die Obervinschger Straßenlandschaft ein paar spaßige Gelegenheiten, mir die Unbeweglichkeit aus den Knochen und meinem Motorrad ein wenig Temperatur in die Reifen zu fahren.

Ich rolle durch Schluderns, meinen Heimatort am Fuß der Churburg, und gebe am Dorfausgang die Zügel frei. Vor über 25 Jahren warf ich hier mein erstes „richtiges“ Motorrad, meine wunderschöne Suzuki RGV 250 Gamma, nach einer Schreckbremsung in die Leitplanke. Schmerzhafte Erinnerungen, vor allem im Portemonnaie … Mit meiner kleinen, zweitaktenden Suzuki fühlte ich mich auf damals dem Weg nach Mals, der nächsten Ortschaft, wie ein Top Racer, in tiefen Schräglagen und mit wahnsinnigem Speed unterwegs. Heute lächle ich darüber, nehme die Kurven mindestens 20 km/h schneller und bin trotzdem gefühlt sehr gemütlich unterwegs.

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Vorbeiflug an der Churburg in Schluderns

In Tartsch, dem Dorf hinter dem Schatten werfenden Bühel, fröstelt es mich nochmal ein wenig, bevor die schwungvolle Fahrt in Richtung Reschenpass beginnen kann.

Nicht mit fünfstelligen, aber doch ernsthaften Drehzahlen fahre ich die Malser Haide hoch, lege mich Kehre um Kehre tiefer in die Schräge. Ich komme durch die Kurven meines ersten Knieschleifens, ich komme durch die Kehre meiner „Bin ich Rossi?“-Frage. Modernen Motorradreifen ist es mittlerweile wohl egal, wie kalt der Asphalt da liegt – unbeirrt beißt sich die kreative Mischung von Pirelli- und Metzeler-Gummi in den trockenen Belag. Schon bald liegt Schnee am Fahrbahn-Rand, aber die Kälte der letzten Nacht läßt ihn zum Glück noch nicht schmelzen.

Unterwegs
 in Richtung Schnee

Für die zahlreichen Greifvögel, die in den Feldern nach Mäusen hungernd auf die Schneedecke starren, finde ich keine Zeit – zu sehr fesselt mich dieses süchtig machende Spiel an Gasgriff, Schalt- und Bremshebel, das Turnen im Sattel, um ein paar Grad Schräglage zu sparen und das Konzert der Ducati: eine italienische Kapelle mit donnernden Auspuffrohren und brüllender Airbox, unterlegt mit einem mechanischen Geräuschteppich eines hochdrehenden Motors. Alleine das mit steigenden Drehzahlen immer lauter, dumpfer und aggressiver werdende Ansauggeräusch rechtfertigt jeden einzelnen Start dieses Motorrads.

Ungefähr auf der Hälfte des stahlblau im Schnee liegenden Haider Sees biege ich auf einen schmalen Wirtschaftsweg ab. Dieser führt mich erst bergauf, dann quer über den Plawenner Schwemmkegel zurück in Richtung Mals, hin zu der Stelle, an der ich schon 2001 mit der Ducati im Eis stand und meine Kamera – damals noch analog – mutig in den Schnee legte.

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Eine Aufnahme aus dem Winter 2001

Eines dieser Fotos fällt mir beim Wühlen im Schreibtisch immer wieder in die Hände – ich möchte es heute, nach knapp 19 Jahren, nochmals genau so aufnehmen. Während ich 2001 die Kamera auf meinen Handschuhen im Schneefeld platzierte und auf das Beste hoffte, stelle ich nun ein ordentliches Stativ auf, such‘ mir einen passenden Standpunkt dafür, kopple die Kamera mit dem Smartphone für das gewünschte Fernauslösen und packe nach minutenlanger Vorbereitung alles wieder auf die Seite, denn mehrere Autos wollen auf dem nicht breiter gewordenen Weg an mir vorbei.

Der Asphalt ist immer noch der gleiche – narbig, rissig, buckelig, derb – und auch die 10 Sekunden bis zum Auslösen sind heute noch gleich kurz wie damals. Das Feld allerdings, in dem ich das Foto einst von sehr weit unten aufgenommen habe, wurde in der Zwischenzeit aufgefüllt und planiert.

Ich kann die Perspektive von 2001 nicht mehr herstellen, auch nicht mit der Kamera direkt im Schnee.

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An gleicher Stelle im Winter 2020

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Nächster Halt:
 Reschensee

Während der letzten Vorbeifahrt im Auto erkannte ich aus den Augenwinkeln einen von den gefallenen Nadeln dunkelrot gefärbten Weg, direkt am hochstehenden Wasser des Sees. Ein Bild meiner Ducati im roten Herbstlaub des Gampenpasses schwirrt ebenfalls in einer Schublade herum – also schleiche ich mich an mehreren Verbotsschildern vorbei, über den teils zugefrorenen Radweg, zum gewünschten Foto-Spot.

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Auf dem gefrorenen Fahrradweg unterwegs ..

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.. zum Foto-Spot: Click!

Wer Reschensee schreibt, muss den Turm zeigen. Ist im Sommer auf dem Platz vor dem versunkenen Kirchturm wegen unglaublicher Massen von Touristen fast kein Platz mehr, störe ich heute niemanden beim Abstellen und mehrmaligen Umparken meiner Ducati.

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Blick
 zum Ortler

Mein letzter Foto-Wunsch: eine Aufnahme vom höchsten Berg der Ost-Alpen, dem Ortler. Schon als Kind hatte ich von meinem Zimmer aus immer freie Sicht auf den Giganten – heute möchte ich den Beinahe-Viertausender über den Reschensee hinweg ablichten. Immer wieder bin ich in den letzten Jahren von meinen Ausflügen über den Reschenpass zurückgekommen, blickte dort auf den Heimat-Berg, der wie aus dem See aufzutauchen scheint. Ich sah ihn wie damals als Kind, beim morgendlichen Blick aus dem Fenster, und war und bin genau in diesem Moment zuhause, obwohl noch 30 Kilometer vor mir liegen.

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Blick über das Wasser

Nach dem Rangieren der Ducati und dem Klettern auf den Ufersteinen bin ich gut durchgewärmt, die 748 inzwischen wieder ausgekühlt. Ich tanke in Nauders – wahrscheinlich zum letzten Mal in diesem Jahr, treffe dort ein paar Gleichgesinnte, die mit dem Motorrad zum Pizza-Essen auf den Reschenpass fahren, und bemerke einmal mehr: dort oben gibt’s einfach die beste Pizza, pasta (sic!)!

Auf meiner Fahrt zurück ins Tal steht die Sonne noch hoch, hält die Temperatur im aushaltbaren Bereich und erlaubt mir guten, unerwarteten Kurvenspaß. Diese eine langgezogene Rechtskurve, am Ausgang von St. Valentin – es ist jedesmal ein einzigartiger Genuss, dieses Motorrad, das mit seinem Rennstrecken-Fahrwerk wie festgeschraubt auf der Fahrbahn liegt, mit weit offenem Gasgriff dort in Schräglage zu bringen und anschließend den Haider See entlang durchzubeschleunigen, im vierten Gang, mit langsam steigender Drehzahl und zunehmendem Grollen aus der Airbox.

Bergab, die Malser Haide hinunter, drückt beim harten Bremsen mein ganzes Gewicht – nun 20 kg mehr als noch bei der Foto-Session 2001 – auf meine Handgelenke. Trotzdem fällt mir das Fahren mit der Ducati nach 18 Jahren sehr viel leichter. Sie rührt auf kalten Bitumenstreifen leicht, verlässt aber die gewünschte Linie trotz abgefahrenem Hinterreifen nicht. Das ist einfach immer noch ein genial konstruiertes Motorrad.

Gegen 14.00 Uhr stelle ich die knisternde, nach viel Arbeit, nach viel verbranntem Benzin und nach gut durchhitztem Motoröl riechende Ducati 748 wieder in der Garage ab.

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6 Gedanken zu „Mit meinem Motorrad im Schnee“

  1. Da sitze ich im rheinischen Novembergrau morgens in der Bahn und sehne mich nach Frühling, Mopped und kurvigen Straßen. Dann dieser Bericht! Einfach schön. Danke!

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  2. Ganz tolle Bilder, da möchte ich sofort mitfahren. Wirklich gelungene Aufnahmen. Wenn ich unterwegs bin, dann vergesse ich es meist, Aufnahmen zu machen. Deshalb vielen Dank für diese Pics.

    Henry

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    • Tja, Henry – so ist es mir lange Jahre auch gegangen. Mittlerweile gehört eine Kamera einfach mit ins Gepäck, um besondere Momente auch im Bild mitnehmen zu können ..
      Danke Dir für Deinen Kommentar!

      Herzliche Grüsse,
      Jürgen

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  3. Wunderschöne Bilder! Als Kind war ich mit der Familie oft in Burgeis im Urlaub. Für ich war der Kirchturm im Reschensee immer das Zeichen, daß die lange Autofahrt von Stuttgart bald zu Ende und das Ferienziel erreicht sein würde.

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