Inside Stilfser Joch: Vor neun, nach vier

MotorProsa: Vor 9, nach 4 - die Geheimnisse des Stilfser Jochs
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Die 48 Geheimnisse des Stilfser Jochs. Erfahrungen und Erlebnisse eines Insiders – warum man früh morgens oder spät abends hochfahren sollte und was das Besondere am „Stelvio“ ist. Alle Fotos von Uli (www.moppetfoto.de), Text von mir.


Dieser Text erschien – gekürzt und leicht überarbeitet – in der MOTORRAD, Europas größter Motorrad-Zeitschrift, Ausgabe 5.2020 (Februar).


Die Königin der Alpenstraßen verbirgt 48 Geheimnisse: ob man sie nun tornanti, Kehren oder Serpentinen nennen will – alle sind sie nummeriert, einige tragen in Stein gemeißelte Höhenangaben, andere zitieren Radsportler in bunter Farbe auf ihrer zerschundenen Fahrbahn. Jede der 48 ist einzigartig und selbst nach hundertfachem Befahren immer überraschend – man liebt sie alle deswegen, oder man hasst jede einzelne.

An wenig anderen Orten läßt es sich komprimierter Motorrad fahren und sich hilfloser in seine Maschine verlieben – oder sie nachhaltiger verdammen. Und an wenig anderen Orten ist der richtige Zeitpunkt für das Befahren wichtiger als hier: will man es des vermeintlich besseren Grips wegen unter kräftiger Sonne tun, erkennt man sofort – hunderte Motorrad-, Rad- und Autofahrer hatten die gleiche Idee und kommen sich nun in die Quere.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 1)

Rush hour, Stelvio Style

© Foto: www.moppetfoto.de

Alles, was fahren kann – oder das von sich glaubt –, will auf das Stilfser Joch und lässt aus dem erhofften Kehren-Swing eine Steh-Party werden. Fallende Motorräder legen sich Autos in den Weg, schleichende Bergauf-Radler kämpfen mit rasenden Bergab-Radlern um die restlichen Meter, und über allem sitzt der Linienbus-Chauffeur und verschiebt die Ankunft auf der Cima Coppi nochmals.

Steh-Party
 auf 2000 m

Tief gebückte und ungelenke Sportfahrer mit Aero-Höckern auf dem Rücken leiden, wenn sich der in den Nacken gekippte Helm ebendort verhakt und den neugierigen Blick hoch in die nächste Kehre verhindert. Adventuristen leiden, wenn breite Alu-Koffer aus ihren Bergkönigen arg raumgreifende Fahrzeuge machen, die zwischen Schlangenlinien fahrenden Radfahrern und Gegenverkehr keinen Platz mehr finden.

Als Teil dieser Masse ein Motorrad in die Höhe zu bringen, ist weit entfernt von Glück: auf dunklen Benzinflecken schimmernde Blinker-Überreste, Fragmente von Brems- und Kupplungshebeln und Rückspiegel-Scherben erzählen vom Scheitern der versuchten Koordination von Drehzahl, Gangstufe und Linienwahl. Die daran zerbrochenen Freund- und Liebschaften hinterlassen zwar keine Spuren, aber viele Gesichter auf der Passhöhe sprechen Bände .. Nur wer das alles als „Überlebender“ von der Tibet-Hütte aus betrachten kann, findet es vielleicht wieder lustig.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 2)

48 Kehren, freie Bahn, frische Luft

© Foto: www.moppetfoto.de

Dabei wäre es doch so einfach: vor 9.00 Uhr ist das Stilfser Joch noch arg dünn bevölkert, nach 16.00 Uhr sind die Massen weiter gezogen. Noch früher am Tag lässt sich der Stelvio sogar alleine erleben: wer schon um 6 Uhr auf der Felsterrasse steht, während sich die Sonne über die fernen Bergkämme hebt, erlebt ein wunderbares Schauspiel, muss sich dafür aber im Dunkeln hoch tasten.

Wer lieber bei Tageslicht fährt, kann ab 7.00 Uhr seinem langen Schatten hinterherfahren. Dann tritt das Grau der in der Nacht verborgenen Felsen hell hervor und der immer noch mächtige Ortler-Gletscher leuchtet weiß von der anderen Talseite.

Der frühe Vogel
 hat freie Bahn..

In Spondinig im Westen Südtirols startet aus einem riesigen Kreisverkehr, der von 48 Säulen gerahmt wird, die SS 38: unschuldig, breit und schnurgerade führt sie dem Berg entgegen, einem amerikanischen Highway gleich. Doch schon bald lehnt sie sich mit schnellen Schwüngen und blinden Ecken beiderseits an die Hänge, verlangt engagierte Richtungswechsel und Schräglagen-Kompetenz.

Kehre 46, am Ausgang des Örtchens Trafoi, überrascht noch mit feinem Belag und ordentlich Raum. Doch keinen Kilometer später verengt und verdunkelt sich die Straße im Wald, wird uneinsehbar und düster, als wollte sie damit sagen: Nun geht’s los.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 3)

Kehre 47 – der Kurventanz beginnt

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Die ersten Spitzkehren auf dem Weg zum Stilfser Joch folgen in derart kurzer Distanz aufeinander, dass kaum mehr als der zweite Gang gebraucht wird. Und doch tauchen in diesem dunklen Labyrinth immer wieder lichte Ecken auf, die es dem Kenner und Könner erlauben, rasant und knieschleifend umzulegen.

Serpentinen, so breit, dass ein Linienbus darin wenden könnte, wechseln sich mit dürren Kollegen ab, in denen der Lenker an seinen Anschlag gebracht werden will. Einige Kurven scheinen direkt im Nichts zu enden, weil der Weg dahinter steil bergab führt.

Die Straße lässt wenig Ruhe zu – 48 mal muss überlegt gebremst, wollen Gänge ruckelfrei gewechselt werden. 48 mal muss gefühlt auf einem Handtuch gewendet werden, 48 mal will das Helmvisier nach entspannendem Ausatmen beschlagen.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 4)

Ein unterhaltsames Spiel – Liniensuche auf dem Stilfser Joch

© Foto: www.moppetfoto.de

Aber es ist auch 48 mal wie ein Rausch. 48 mal Einlenken auf den möglichst richtigen Zentimetern ist ein unterhaltsames Spiel. „Möglichst richtig“, denn die perfekte Linie lässt sich hier nicht finden – die Natur verschiebt sie mit abgebrochenen Ästen, gefallenen Nadeln und querenden Schmelzwasser-Bächen immer wieder.

Dann erlauben längere Distanzen zwischen einigen Kehren wieder zügiges Vorankommen – nach dem Klettern im Schritt-Tempo fühlen sich 90 km/h fast doppelt so schnell an.

Ab Kehre 20 zieht grandiose Natur vorbei. Das ständige Hin- und Her erlaubt neue Bilder im Kopf, jede gefahrene Serpentine präsentiert die hochalpine Landschaft aus neuer Perspektive, in wechselnden Farben und mit anderen Gerüchen.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 5)

Komprimiertes Motorradfahren auf herausforderndem Asphalt

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Vorderreifen fallen in tiefe Risse zwischen den Betonplatten, die im Jahreslauf ihre schützende Asphaltdecke verloren haben. Hinterreifen rühren über glattgeschliffenen Teer und narbige Bodenwellen, verlangen Gegenhalten an den Lenkern und schnelle Beine für eventuell gefragtes Mitfußeln. Eben komprimiertes Motorradfahren ..

Das ist der Moment für die Stilfser Joch-Show: die immense Steintreppe, die sich ab der Franzenshöhe vor dem Motorrad aufbaut und minütlich in einen anderen Farbton getaucht wird, kann endlich die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhalten – kein gemeinsamer und kein Gegenverkehr lenkt davon ab. Von unten ist die waghalsige Konstruktion der Stützmauern zu erkennen: fette Pfeiler, tief in den Berg gerammt, tragen die über die Leere ragende Fahrbahn.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 6)

Lange Schatten, frühmorgens auf der Steintreppe des Stelvios

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Das Helmvisier mag für die frische Morgenluft offenbleiben. Der Abgasrauch des Vortags ist in der Kälte der Nacht talwärts gefallen, lässt nun Platz für frisch-grünlich riechende Bergkräuter – falls der Wind nicht über ein Murmeltier-Klo hinweg weht ..

Sich eine halbe Stunde lang inmitten dieses gigantischen Hindernis-Parcours zu vergnügen, beschert dem Liebhaber mindestens 48 Glücksmomente und einen Flow wie beim Tanz zum Lieblingslied.

Kurvenrausch
 vor 9.00 Uhr

Die Passhöhe zeigt sich – frei von orientierungslos Parkenden – geräumig. Das Stilfser Joch gehört den die Bratwurstreste vom Vortag vertilgenden Dohlen und einigen Skifahrern, die zur Seilbahn holpern, um auf dem nahe gelegenen Gletscher den Schwung des Winters nicht zu verlernen.

Die ersten wahren Zweirad-Helden, die auf den Rennrädern, treffen ein – die meisten von ihnen haben sich mehr als zwei Stunden geschunden, um hart atmend unter dem Pass-Schild Selfies zu schießen.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 7)

Die wahren Zweirad-Helden des Stilfser Jochs

Gegen 8.00 Uhr beginnt das geschäftige Treiben. Rollläden, deren bessere Zeiten weit im Gestern liegen, werden kratzend hochgezogen, vergilbte und ausgehärtete Kunststoff-Stühle finden ihren Weg unter schief stehende, wackelnde Tische. Alles wirkt verlebt, wie aus einer besseren Zeit gefallen – die glorreiche Ära des Sommer-Skilaufs und des schillernden Besserverdiener-Tourismus sind vorbei. Der Glanz gehört dem neuen Pass-Schild – bevor es unter einer Flut von Aufklebern verschwindet.

Wenn die Souvenir-Läden ihre verstaubten Stofftiere und heftig bepreisten Fahrrad-Trikots an die Straße befördert haben und die Wurstbrater ihre Gasöfen anwerfen, wird es Zeit, weiterzufahren – auch weil rasende Mountainbike-Shuttles keine Rücksicht auf vor sich hinträumende Motorradfahrer nehmen: ab 9.00 Uhr herrscht Bike-Verbot auf den Wanderwegen rund um’s Stilfser Joch.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 8)

Zeit, weiter zu fahren

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Nachmittags ab 16.00 Uhr ändert sich das Bild. Wer jetzt noch hier oben ankommt, ist meist schon weit gefahren und kurz vor seinem Ziel, und viele, die nicht mehr unbedingt in die Lombardei oder nach Südtirol müssen, bleiben in den Tälern. Die Sonne steht über den Schweizer Bergen und blendet nicht. Die bergauf so anspruchsvolle Fahrerei wird bergab beinahe einfach – der freie Blick von oben erleichtert vieles, obwohl die Schwünge durch die Rechtskehren weiterhin ihren Platz verlangen. Abwärts zeigt sich hier, wer seine Maschine lieben oder hassen gelernt hat: grobmotorisch Bremsende hinterlassen stinkende Fahnen.

MotorProsa: Vor 9, nach 4 (Bild 9)

Das wars – entspannt wieder hinunter ins Tal

© Foto: www.moppetfoto.de

Am Rande der SS 38 kuscheln abends Murmeltiere auf den warmen Steinen und lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie wissen, es dauert noch ein paar Momente, bis die einheimischen Reiter ihre Maschinen für’s Feierabend-Schwarzmalen starten und Intensiv-Schulungen der Stelvio-Linie geben.

Mythos
 Stilfser Joch

Während Supermoto-Fahrer gar nicht genug von seinen 48 Geheimnissen bekommen können, Sportwagenfahrer ihre Frontspoiler in 48 Teilschritten formoptimieren und Fahrradfahrer wochenlang täglich an ihm scheitern, ziehen majestätische Bartgeier ohne einen Flügelschlag stundenlang ihre Kreise über ihn – als Gegenpole zum hektischen Treiben auf 2757 Metern Höhe.

Ein paar Meter tiefer gibt der Umbrail – als höchster Schweizer Gebirgspass – den Weg ins Val Müstair frei. Ganz anders als der italienische Rummelplatz liegt er wie verlassen im Gebirge. Sobald die derben Stelvio-Skihotels und die faulenden Fassaden der italienischen Straßenwärter-Buden aus den Rückspiegeln verschwinden, übernimmt seine märchenhafte, nahezu kitschig schöne Alm-Landschaft. Sein gepflegter Asphalt führt in ein sprachlich, kulturell und architektonisch ganz anderes Land, und so ergänzt der Umbrail das Stilfser Joch perfekt.

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5 Gedanken zu „Inside Stilfser Joch: Vor neun, nach vier“

  1. Sehr schöner Bericht!
    Ich habe schon 3 x mehrere Tage in der Franzenshöhe übernachtet und kann nur bestätigen , dass es am späten Nachmittag und frühen Morgen dort oben am Schönsten ist.
    Man kann darüber schmunzeln, aber fats am Allerschönsten ist es dort oben in der Nacht, wenn man die Stille unter dem Sternenhimmel förmlich greifen kann.

    VG
    Ralf

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  2. Hallo Jürgen,
    vor neun – nach vier, fast so oft gelesen wie den Stelvio selbst erlebt.
    Beides ist jedesmal wieder eine Freude!
    Auch dich auf dem Feuerroten Spielmobil zu sehen ist immer wieder ein Genuss. (Wer ist eigentlich der auf der BMW hinter Dir)?
    Jetzt im November, leicht melancholisch gestimmt, weiß ich doch , das nächste Frühjahr kommt bestimmt.
    Viele Grüße nach Süd-Tirol!
    Rolf

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  3. Es ist wohl gut sich früh grosse Ziele zu setzen. und auch wenn ich erst bei der Theorie für den Führerausweis bin, habe ich mir schon mal das Ziel gesetzt, eines Tages diesen Berg mit dem Motorrad zu befahren. Erster Gedanke von meinem Freund: Ich komme mit, aber ich fahre mit dem Fahrrad hoch. So sind sie die „Supersportler“

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