Tag Zwei am Lago di Tenno. Wir verlieren uns im Hinterland von Tremosine, staunen über coole Boulevards, enge Schluchten und steile Pfade durch die Wildnis. Ich leide Höhenängste und erlebe traumhaftes Motorradwandern.
Nach einer – für italienische Verhältnisse – bemerkenswert ruhigen Nacht, ohne Stechmücken und anderem Kleingetier im Zimmer, verschlafen wir um ein Haar das Frühstück. Beim dritten Espresso vermute ich die Luftveränderung als Schuldigen für unseren tiefen Schlaf.
Gut, die Fußrasten-Geräusche der sportlich bewegten Supermotos, die rund um die Uhr von Riva hoch- und wieder runterknallen, haben mich halbstündlich aus dem Schlaf gerissen. Als ehemaliger, auch mitunter engagiert fuhrwerkender Supermoto-Fahrer stört mich das aber nicht, im Gegenteil. Ein federleicht fliegender Einzylinder ist mir selbst nachts ein Garant für freudige Gänsehaut. Allerdings hätte ich mir selbst in meiner pubertärsten Zeit zweimal überlegt, ob ich in einer Hotelkurve mit Zebrastreifen Fußrasten schleifen würde.
Wie dem auch sei: Trotz der späten Uhrzeit gibt es ein ausgiebiges Frühstück auf der von Gardasee-Winden umstürmten Hotelterrasse. Als Highlight: Handgeschnittener Obstsalat aus frischen Früchten! Eigentlich könnten wir es hier noch viel länger aushalten, es den beiden Motorradfahrer-Kollegen am Nebentisch gleich tun, die gefühlt noch vom Vorabend dort sitzen. Aber unser Plan für heute lautet: hoch nach Tremosine, und dabei
durch die
Brasa-Schlucht
Der King bekommt dafür eine Kamera an den Lenker montiert. Die mitgebrachte Rohrklemme aus dem Zubehör geht umgehend den Weg allen Geraffels – sie klemmt sich zwar heftig an den amerikanischen Stahl, die Verschraubung der Kamera hingegen wackelt in alle Richtungen. Qualität, wie sie im Buch steht – im Strafgesetz-Buch …
Dafür erfreut mich die Gesellschaft in der Garage. Eine Cagiva Mito im Ducati 916-Design steht zur Rechten des Kings, klein und unscheinbar – aber genau DIESE Maschine war einer der Gründe für meine jugendlichen feuchten Träume. Zur Linken stehen zwei Victory-Bagger. Nun ist der Road King auch nicht unbedingt für sparsamen Umgang mit Rohstoffen bekannt, aber im Vergleich mit diesen very Big-Bikes muss selbst er den Hals recken. An den Victorys ist alleine der rote Killschalter-Knopf breiter als die komplette Harley-Lenkerarmatur. Das ist
Fett!
Der King wehrt sich gegen meinen Startversuch – nach dem üblichen, gusseisernen Schlag des Anlassers bleibt der Motor einfach stehen, um erst nach einer halben Gedenksekunde anzuspringen. Nachdem aber ein paar Dutzend Kilometer Fahrt vor uns liegen, vertraue ich auf die Ladefähigkeit der Lichtmaschine.
Wir rollen über die schöne, kurvenreiche Straße nach Riva, umfahren die Stadt großräumig und flanieren im Anschluss am Westufer von Italiens größtem See entlang. Die Wände der Tunnels werfen das Grollen der Harley hin und her, vor und zurück, nur unterbrochen vom Kreischen anderer Motorräder. Ich fahre mit wenig Drehzahl und erfreue mich über das entspannende Beben unter mir. Im Schiebebetrieb rotzt und rülpst der King herrlich unkultiviert aus seinen beiden Rohren – ich habe kindischen Spaß daran.
So lassen wir Limone hinter uns und bollern weiter durch Tunnels und Galerien, bis uns ein Verkehrsschild von Tremosine erzählt und uns rechts den Berg hoch schickt. Schlagartig fehlt dem Weg die Hälfte der Breite, und natürlich stellt sich sofort ein Auto vor uns. Sei’s drum, wir haben ja Urlaub,
wir
haben Zeit.
Bei der Fahrt der Wand entlang werde ich den Eindruck nicht los, schon mal hier gewesen zu sein. Irgendeine Erinnerung macht sich bemerkbar. Klar, die Schluchten der Ardeche und die Höhlen des Vercors, durch die ich im Sommer 2016 mit der Ducati gefahren bin, waren ähnlich, aber nicht so schmal. Da muss viel früher was gewesen sein. Ich gerate ins Grübeln.
Die Straße frisst sich dramatisch durch den Fels, tut es dem Rinnsal in der Tiefe gleich. Der Berg schließt sich gefühlt über unseren Köpfen, Wasser tropft auf uns herab. Hoffentlich bleibt es nur beim Wasser. Wie die Menschen wohl vor 100 Jahren hier durchkamen? Auf nicht asphaltiertem, noch schmalerem Untergrund, mit Pferde- oder Ochsenfuhrwerken, ungesichert nach unten und oben, dem Schicksal, dem wütenden Brasa-Bach und der Tagesform ihrer Arbeitstiere ausgeliefert?
Heute rollen wir bequem sitzend und motorgetrieben, von LEDs beleuchtet und von ABS behütet, mit Mobilfunk-Netz und wahrscheinlich auch von Überwachungs-Kameras betrachtet, innerhalb weniger Minuten hindurch, und erleben bis auf – zugegeben – sensationellen Eindrücken nichts Dramatisches.
An einer roten Ampel, die wohl verhindern soll, dass sich die modernen Fuhrwerke in die Quere kommen, fällt es mir wieder ein: Mit meiner Yamaha FZR 1000 Exup, ebenfalls vollgepackt und mit Sozia, stand ich vor 22 Jahren schon mal hier – zwar nicht an dieser Ampel, aber unweit davon. Und war kurz vor dem Umfallen, weil ich den Kurvenradius komplett falsch eingeschätzt hatte und zurücksetzen musste.
DAS war
ein Erlebnis!
In der Tat erreichen wir schneller als erwartet Tremosine, und ich parke den King auf einer weiß gestreiften Sperrfläche. Denn alle Parkplätze sind belegt. Der amtshandelnde Dorfpolizist verteilt seine Strafzettel aber nur auf kreativ parkenden Autos. Zu mir meint er „non da fastidio, tutto bene“. Also, kein Problem, mein Motorrad hier stehen zu lassen. Viva Italia!
Wo hätte er auch sein Ticket befestigen wollen? Scheibenwischer hat der King noch keinen.
Eigentlich vermuteten wir hier oben, weit weg von den Stränden des Sees, weniger Action – aber die nicht enden wollende Schlange an Fahrzeugen, die sich in die Höhe quält, sagt klar: Hier gibt’s irgendwo einen Hotspot. Und kaum dran gedacht, stehen wir auch schon drauf: Mitten auf einer schmalen Terrasse, mehrere Hundert Meter über dem See.
Langsam wage ich mich vor ans Geländer. Unter mir fällt der Fels senkrecht in die Tiefe, die Gardesana ist ein schmaler Faden, das Dröhnen der Motorräder nur noch ein Rauschen. Für Höhenängstler ist das in der Tat eine Schauder-Terrasse. Wieviel im Schreck den Halt verlorene Smartphones und Kameras wohl unten im sich kräuselnden Wasser liegen? Und auf dem nahen Dorfplatz, 10 Meter vom Abgrund entfernt, drehen einheimische Kids unbekümmert ihre ersten Runden auf dem Fahrrad – es schaudert mich noch heftiger.
Cappuccino und Eis helfen bei der Entspannung. Ich bin zwar ein Mann der Berge, aber ich blicke lieber von unten nach oben, nicht umgekehrt. Ich schlage vor, diese irren Klippen über die weite Hochebene von Tignale zu verlassen. Die Schlucht nochmal zu durchfahren, abwärts, reizt nicht mehr. Der Harley-Anlasser ist wohl auch beeindruckt – und braucht
eine weitere
Gedenksekunde …
Keine zwei Kilometer später rollen wir auf kurvenreichstem Weg durch den Wald, ohne Gegenverkehr, auch nicht von hinten. Nur wenig weiße Striche auf der Fahrbahn, keine Leitplanken – die Straße endet, wo das Grün beginnt, und sie gehört uns allein. Es riecht nach Gewürzen, nach Kräutern, nach frischem Gras – „macchia“ eben. Die eine vor sich hin verwesende Schlange mitten auf der Straße oder die dampfenden Hinterlassenschaften von umherspazierenden Rindern kommen nicht dagegen an, der Gestank schlecht verbrannten Diesels aus alten italienischen Wohnmobilen oder fetten Benzols von offenen Vierzylinder-Racern liegt weit unter uns.
Es geht steil bergauf, noch steiler bergab, es geht durch aus dem Nichts auftauchende Kehren und danach um den nächsten Berg. Alleine auf und in weiter Flur – so stelle ich mir Motorradwandern vor, und so liebe ich es. Wenn ich dabei über den dritten Gang und etwas mehr als Leerlauf-Drehzahl nicht hinaus komme, ist es umso entspannender, und von hinten zeigt mir Petra einmal mehr den nach oben gereckten Daumen.
Was freue ich mich, dass wir – kaum dass wir den dunklen Wald verlassen – ungeplant an einer bekannten Stelle vorbei fahren: an der Auffahrt zum Kloster Madonna di Montecastello. Vor Jahren waren wir mit dem Cabrio dort, haben uns zu Fuß und schwer atmend über steilste Pilgerwege hoch geschleppt, nur um vor verschlossenen Toren zu stehen. Die Aussicht über den See war aber jeden einzelnen, brennenden Schritt wert. Meinen Vorschlag, nachzusehen, ob die Tore zum Kloster heute offen sind, lehnt Petra dennoch ab.
Also wieder abwärts – wie erhofft über eine weitläufige Straße als bei der Fahrt hoch nach Tremosine. Der King bollert seewärts, um sich wieder in die Gardesana einzureihen. In Riva hat mein Navi eine neue Idee und routet uns nach Pranzo, am Berghang gegenüber von Tenno gelegen. Zwar müssen wir über einen Saumpfad fahren, fallen aber an seinem Ende in die Garage unseres Hotels. Die durchgeschwitzen Klamotten fliegen in die Ecke des Zimmers, wir ziehen uns in Bequemes zurück und setzen uns dann nochmals auf den King, um im Tenno-See Abkühlung zu finden.
Wir müssen einige Stufen hinabsteigen, um ans Wasser zu gelangen. Schon von weitem strahlt dieses kräftige Türkis durch die Bäume, mitten in dieser Knaller-Farbe liegt eine Insel, die über im flachen Wasser liegende Steine erreichbar ist.
Es gibt nur wenig freie Stellen am steinigen Strand. Stehpaddler und Luftmatratzen-Kapitäne treiben über das Wasser, Kinder planschen im Nass, deren Eltern verbrennen dösend in der Sonne. Ich breite mein Handtuch aus, werfe Shirt und Hose von mir und mache mich auf den Weg ins Wasser. 15 cm tief lasse ich meine Füße in den eisig kalten See versinken, dann drehe ich auf dem Absatz um und sehe zu, dass ich wieder raus komme. Ich kann sicher auch ganz gut vom Ufer aus über die vielen großen Fische und diese intensive Farbe staunen.
Also verbringen wir den Nachmittag auf unseren Handtüchern und betrachten das Treiben am und im Wasser. Zeit einfach so verstreichen zu lassen, sich für die nächsten Stunden nichts vorzunehmen, den Schatten zusehen, wie sie langsam über die Kiesel kriechen – das schenkt uns wieder eine tiefe Ruhe.
Dann ruft der Hunger. Unseren ursprünglichen Plan, jeden Abend irgendwo anders am See zu essen, hat das Restaurant unseres Hotels sofort und erfolgreich zunichte gemacht. Zu genial schmeckt das Carne salada, das selbstgebackene Brot, die hausgemachte Pasta mit den frischen Kräutern aus dem eigenen Garten, das Wild-Ragout aus den Wäldern rund um Tenno und das – natürlich –hausgemachte Dessert. Tira-mi-sù,
Umwerfend!
Ach übrigens – bevor es unerwähnt bleibt: Beim Start am Tenno-See benötigte der Harley-Anlasser zwei Gedenksekunden …
≡ Mit der Harley zum Lago di Tenno – Tag 1
≡ Mit der Harley zum Lago di Tenno – Tag 3 folgt