Serpentinen. Haarnadelkurven. Kehren. Spiralkurven – die Essenz des Motorradfahrens. Ich liebe sie, und ich fahre gerne auch mal 200 davon am Stück. Komm mit – ich zeige Dir eine ganz besondere Strecke!
Es ist ein Kreuz hier in den Alpen: meine Heimat ist so voller Berge, dass es dauernd Aus ist mit der Aussicht. Die Dinger sind so hoch, dass man drumherum fahren muss, und das geht meist nur über kurvige und steile Straßen. So quälen wir uns heute, durch Serpentinen und Kehren, nach oben – und kaum dort, geht’s dahinter wieder runter. Wer also mit Spitzkehren und höher verlaufenden Straßen nicht so gut zurecht kommt, sollte folgende Strecke besser meiden:
Kehren sammeln
auf kurviger.de
Am Startpunkt in Spondinig zeigt sich die Strecke noch sehr einfach: zwei Kilometer geradeaus bis Prad am Stilfser Joch, jenes Dorf, das unser erstes Etappen-Ziel im Namen trägt. Unser Weg führt ruhig durch und aus dem Ort. Das Tal des Suldenbachs verengt sich zügig, die SS38 lehnt sich an die steilen Bergflanken. Es wird notwendig, bisweilen etwas stärker zu bremsen und das Motorrad etwas tiefer in die Kurven zu legen.
Schwarze Striche erzählen von Motorrad-Kollegen, die – auf einzylindrigen Geländemaschinen mit falscher Bereifung unterwegs – bereits hier mit der Beherrschung ihres Fahrzeugs überfordert sind. Ab und zu erscheint einer dieser Spezialisten im Gegenverkehr – also hütet Euch vor denen, die in Kurven den Stiefel von der Raste nehmen müssen 🙂
Einzylindrige Geländemaschinen
mit falscher Bereifung
Im Örtchen Stilfserbrücke überqueren wir den vom eiskalten Gletscherwasser grau gewordenen Suldenbach. Vor der Brücke schwungvoll nach rechts und sofort wieder nach links umlegen – so meistern die Kurvenfreunde diese Schlüsselstelle. Gerne kann diese Kombination als Vorbereitung für die folgenden Kurven bis nach Gomagoi dienen.
Um den von den Bergen stürzenden Steinen eine Landung im Wasser zu ermöglichen, hat man eine Galerie an und in den Berghang gebaut. Kaum aus der Röhre raus, wartet Kehre Nr. 48 auf uns: ein tückisches Ding. Geht hart und sich zuziehend nach rechts, steigt dabei an und verengt sich. Tiefe Kratzspuren im Asphalt erzählen Geschichten von aufsetzenden Bussen, dunkle Flecken von ausgelaufenen Motorrad-Tanks warnen vor falschen Taten an Gas und Kupplung, orangefarben schimmern Blinker-Bruchstücke in der Sonne.
Kehre Nr. 47 folgt wenige Meter später. Als Linkskurve ist sie benutzerfreundlicher und der Anstieg bis Trafoi erlaubt wieder etwas Entspannung. Dabei lohnt sich ein Blick in die Bergwelt, die sich vor dem Vorderrad öffnet – mächtige Felsriesen mit im Frühjahr bis tief ins Tal reichenden Gletschern.
Am Dorfausgang von Trafoi liegt die Kehre Nr. 46. Wer diese verpasst, findet sich im Hotel „Schöne Aussicht“ wieder, das vom Ski-Olympia-Star Gustav Thöni und seiner Familie geführt wird. Sollte Valentino Rossi mal ein Hotel übernehmen wollen – dieses Haus ist perfekt!
Auch das nächste Eck führt bei Misslingen in ein Hotel – bis hierher kann also wenig schief gehen. Trafoi mit der einsam in der Wiese stehenden Kirche und dem besuchenswerten Haus der Natur „naturatrafoi“ liegt hinter uns und dunkler Wald öffnet sich. In ihm nimmt die Breite der Straße sofort gefühlt um die Hälfte ab.
Ängstliche Naturen haben jetzt noch die Möglichkeit, nach links abzubiegen und sich zur Wallfahrts-Stätte „Drei Brunnen“ zu retten. Alle anderen begeben sich in die
Folterkammer für
Kupplungshand und Nackenmuskeln
Kleine Anekdote: In der nächsten Kehre sah ich seinerzeit vier Motorräder liegen – einsamer Rekord in 30 Jahren Joch-Fahren. Hauptdarsteller dieser Szene waren zwei Großenduros, ein Naked-Bike und ein Chopper – eine Maschine fiel vor der Kehre, zwei in, eine danach: der Fahrer von Maschine Eins fuhr die Kehre viel zu eng, berührte rechts den Randstein und fiel über diesen ins Gras. Seine Sozia rollte sich elegant auf der Fahrbahn ab.
Der Fahrer von Maschine Zwei wendete in einem Anflug von Hilfsbereitschaft in der Kehre und stellte sein Motorrad talwärts ab. Er hätte mal besser einen Gang eingelegt. Kaum seine Maschine verlassen, rollte, fiel und und rutschte diese materialmordend zu Tal.
Der Fahrer der Maschine Nummer Drei sah sich so aller Linien durch die Kehre beraubt, zog panisch an der Bremse und fiel langsam um. Die Fahrerin der Maschine Vier ließ angesichts dieses Alpen-Kegelns den Lenker los, sprang vom fallenden Motorrad, schleuderte wütend ihren Helm zu Boden und brüllte zu Fahrer Nummer Zwei, der sich grad mit seinem Motorrad abmühte: „… ich hab‘ Dir gesagt, ich fahr‘ da nicht hoch!“
Ein zu Tränen rührendes Drama, ich fühlte mich glänzend unterhalten. Eine Stunde später begegneten mir die Vier auf der Passhöhe wieder – ich hatte inzwischen zu Mittag gegessen. Mit eisernem Willen haben sie ihr Vorhaben durchgezogen, weitere Dramenanzahl unbekannt, Anekdote Ende.
Ich hab‘ Dir gesagt,
ich fahr‘ da nicht hoch!
Ausgangs der nächsten Kehre ist die Fahrbahn rutschig wie sonst nirgends. Sogar gewichtsstarke, leistungsschwache Harleys schaffen hier Drifts – selbst ausprobiert. Man quert eine lichte Lawinen-Schneise (die ich schon mal mit der Supermoto hoch-, aber leider nicht mehr runterfahren konnte) – je nach Untersatz entweder auf dem Knie oder auf dem Trittbrett – und wühlt sich weiter durch superenge, dann wieder unwirklich breite Kurven. Spitzkehre reiht sich an Spitzkehre, mehr als den 3. Gang braucht man selten.
Beim „Weißen Knott“ – dem weißen Felsen – werden die Bäume dürrer und weniger. Fleckiger Asphalt wechselt sich mit glattgebremsten Betonplatten und Sprungschanzen in der missbrauchten Fahrbahn ab, neu erstellte Begrenzungs-Blöcke aus Beton und Steinen des Trafoier Bachs beißen sich mit der alten Stützmauer aus dem vorigen Jahrhundert, Murmeltiere schaufeln eifrig Steine vor die Räder.
Da gut durch zu kommen, erzwingt einen Steptanz auf Schalt- und Bremshebel. Ständig ist an Kupplung und Bremse zu ziehen, das Motorrad kippt in alle Richtungen und trifft doch immer genau den einen einsamen Murmeltier-Stein. Die Nackenmuskeln haben’s schwer, beim Blick ums Eck, Gelegenheiten zum Verschnaufen gibt es wenige – auf den seltenen Ausweichmöglichkeiten und Parkplätzchen steht meist schon wer. Dabei wäre der Anblick der Bergriesen der Ortlergruppe jederzeit jede Pause wert.
Ab der Franzenshöhe öffnet sich der ganz große Blick auf das Straßenwundermeisterwerk. Ich frag‘ mich gerne, wie man es um 1800 geschafft hat, in dieser unwirtlichen Gegend derartige Mengen an Baumaterial zu beschaffen und bereitzustellen, den Weg aus den Fels zu graben und die Straße das ganze Jahr über befahrbar zu halten.
Eine
unglaubliche Leistung
Langsam wandelt sich der Berg zu blankem Stein. Dennoch wachsen immer noch Pflanzen im Fels – ich glaub, er nennt sich Gletscherhahnenfuß. Im Nationalpark-Haus „naturatrafoi“ wüsste man es ganz genau. Einzelne Schneefelder überdauern hier den Sommer und entlassen Rinnsale über den Asphalt. Über Nacht wirft der Berg mit Geröll nach der Straße. Je kleiner die Kehrenzahlen werden, desto steiler wird die Wand, und der Weg wird enger. Da kann der Platz schon mal ausgehen …
Die von Fahrrad-Enthusiasten auf die Straße gepinselten Restkilometer-Werte kündigen die Passhöhe an: 2760 Meter über dem Meer. Im Bratwurst-Dampf und Sauerkraut-Nebel gibt es selbstpfeifende Stofftiere zu kaufen, einheimische Säuferhüte aus chinesischer Wolle und Polenta mit ganzjährig frischen Pfifferlingen aus dem eigenen Garten – der wahrscheinlich höchstgelegenste Zirkus wo gibt. Kolossal hässliche Betonbauten aus den 60ern mit verblichenen Schriftzügen an den Wänden widerrufen jede Einladung zum Verweilen – schnell weg hier, schön ist anders. Obwohl mich die Landschaft dort oben immer wieder umhaut.
Abwärts,
nach Bormio
Die Straße führt rasch in die Tiefe, nächstes Ziel ist Bormio, bekannt auch aus der Ski-WM. Die Landschaft öffnet sich beidseitig – wir halten uns links, rechts ginge es in die Schweiz. Mit jeder weiteren Haarnadel holt sich das Grün wieder etwas Landschaft zurück, Wasserfälle rauschen ins Tal, bizarr verbogene Steinschichten ragen in den Himmel, der Berg bekommt Löcher mit LED-Beleuchtung. Früher war spontan auftretender Gegenverkehr im einspurigen Felsenloch sehr anregend. Heute sieht jeder Wohnmobiler ein bisschen besser im Rückspiegel, beim erzwungenen Zurücksetzen.
Alles wirkt ein wenig trockener, steppenhafter, südländischer. Beeindruckende Geröllhalden, die bei Gewittern schon mal abrutschen und die Straße verlegen, begleiten auf dem Weg nach unten. Anstelle von gemauerten Begrenzungssteinen gibt’s dunkle, rostige Leitplanken, dafür ist der Straßenbelag besser, die entgegenkommenden italienischen Jungs tragen mehrheitlich Jeans. Der Eindruck, dass hier alles ein wenig lässiger gesehen wird, lässt sich nicht vermeiden.
Nach 34 Kehren, einer Handvoll Tunnel, zauberhaft in den Berg geschnittenen Kurven und tiefen Blicken in die Braulio-Schlucht ist der Spaß vorbei, Bormio ist erreicht. Es italienert sehr, das Flair zwischen den Ski-Hotels, Thermalbädern und uralten Steinhäusern ist komplett anders als im nicht mal 50 km entfernten Vinschgau.
Hoch zu den Seen –
im Valdidentro
Nach einer kurzen Fahrt durch das Valdidentro zweigen wir irgendwo im Gestrüpp auf ein unauffälliges, kleines Sträßchen ab. Die Kehren fühlen sich eng an, die Bäume riechen intensiv und nadelig, die Arbeit an den Motorrad-Hebeln wird wieder herausfordernd.
Am Ende des Anstiegs erheben sich zwei Türme: die Torri di Fraele, Überbleibsel einer Festung, die in mittelalterlichen Zeiten als Zollstation für den Warenverkehr in die Schweiz diente. Von hier bietet sich ein wunderbarer Blick auf die soeben befahrene Straße und das Valdidentro, das „Innere Tal“.
Es folgt ein unbefestigter Weg durch eine noch unberührte Landschaft. Ein tiefblauer See, der Lago Scale, taucht aus dem Nadelwald auf, und wenig weiter stehen wir vor einer riesigen Staumauer – die Diga di Cancano, der den gleichnamigen See in Zaum hält. Im urigen Rifugio Monte Scale nahe am Wasser gibt es die besten mir bekannten Pizzoccheri.
Rund um den Cancano-See schlängeln sich zahlreiche befahrbare Schotterwege – an seinem Ende ragt eine weitere Staumauer, die Diga di San Giacomo, in den Himmel. Beeindruckend, diese riesigen technischen Gebilde im Hochgebirge, geschaffen in unzähligen Mann-Stunden und wahrscheinlich unter desaströsen Bedingungen. Wer passendes Reifenmaterial auf seinen Felgen hat, findet hier einen unterhaltsamen Spielplatz – wer Besinnlichkeit sucht, findet diese in den Kapellen im Wald.
Bis hierhin waren es knapp 100 Spitzkehren, genossen in ca. 1,5 Stunden Fahrzeit auf dem etwas schwereren amerikanischen Eisen. Ein kurzweiliges Sammeln von Kehren, Schräglagen und Aussichten. Der Weg zurück kann mit der Fahrt durch das Valfurva und über den Gavia-Pass, eine weitere Traum-Straße, verlängert werden – aber das ist eine andere Geschichte.
Kehren sammeln ist in meiner Heimat also sehr einfach – los, mach‘ mal mehr als 200 draus!
… und jetzt habe ich noch mehr Vorfreude auf unsere Tour im Juni! Juhuuu!
Ha! Das ist ja cool – freue mich schon auf das gemeinsame Kehrensammeln!