Mit meiner Ducati aufs Stilfserjoch, den Gavia und den Mortirolo – was sich wie eine gemütliche Samstags-Motorradtour anhört, wird als „Alpenbollern“ zum hochalpinen Treffen mit guten Freunden – und ein spaßiges Erlebnis. Eine Erinnerung an den Sommer 2019.
Die
Vorgeschichte
Mittwoch Nachmittag in Bozen. Die Sonne brennt mir auf den Nacken, das offene Cabrio bietet keinen Schutz. Ich flüchte mich in die Werkstatt meines langjährigen Ducati-Mechanikers und erwarte dort ein finanzielles Fiasko. Sehr viele Wochen zuvor übergab ich meine Ducati 748 mit den Worten „Erweck‘ sie mir wieder zum Leben, ich brauch sie für eine 90er-Jahre-Gedächtnis-Ausfahrt“ – und vergaß, nach einem Kostenvoranschlag zu fragen. Könnte schmerzen.
Mittwoch Abend in der Meraner Gegend. Ein Krampf im rechten Oberschenkel wandert hoch zu meinen Schultern und weiter, hinab in den linken Fuß. Die Kupplungshand jammert im zu engen Handschuh, Anfahren klappt überhaupt nicht. Unterm Hintern wird es warm, meine Brille wackelt im Takt des rappelnden V2 auf meiner Nase …
Zwei Jahre
Ducati-Stillstand
Seit dem Cevennen-Brennen von vor zwei Jahren stand die Ducati 748s unbewegt in der Garage. Meine Knochen schmerzten nach den 2.000 Vollgas-Kilometern im heißen Frankreich derartig, dass ich keine weiteren Ausfahrten auf der italienischen Diva ertragen wollte. So unbewegt stand sie da, dass sie selbst unter der Abdeckplane eine millimeterdicke Staubschicht ansetzte und eine Spinnenfamilie im Höcker einzog. Der Hinterreifen: nach zwei Jahren luftlos. Der Vorderreifen: schon auf französischem Asphalt zu Tode gefahren. Die Verkleidung: in Teilen auf dem Boden verstreut, um alle paar Monate mal die Batterie laden zu können. Die Versicherung: stillgelegt. Die technische Hauptuntersuchung: viel zu lange fällig.
Und nun hebt sich das Garagentor für die entstaubte, gewaschene, polierte und wieder auf Vordermann gebrachte Ducati. Ihr Marktwert ist durch die erhaltene Rechnung um ca. 50% gestiegen, während sich ihr emotionaler Wert durch die Krämpfe und Schmerzen in Handgelenken, Beinen und Nacken in eine Schuld wandelte.
Noch ein wenig
die Optik aufhübschen
Freitag Abend, Schrauber-Abend. Für das Alpenbollern soll die 748 besonders hübsch sein. Der originale Höcker muss weichen – einem Monoposto-Heck mit weißem Startnumern-Feld und goldenen Zierlinien.
Aber: Bohrungen am Monoposto fehlen, verrostete Schrauben brechen ab. Halterungen passen nicht, wichtige Befestigungsteile gehen im Eifer der Montage verloren. Am Ende fehlt nicht nur Montage-Material, sogar auch das passende Werkzeug dazu. Gereizt deponiere ich meinen Helm schon mal auf der Sitzbank der KTM 1290 Superduke R und denke darüber nach, das Treffen mit ihr zu fahren. Aber vor allem ärgere ich mich über den zwar günstigen, aber immensen Montage-Aufwand verursachenden Nachbau-Höcker.
Trotzdem ist die Ducati tags darauf startklar. Italien ist Improvisation, ein italienisches Motorrad ganz besonders, und mit Hilfe meiner Partnerin, passenderweise Halb-Italienerin, klappt auch der Anbau des Monoposto.
Samstag Morgen: Ich kämpfe mich auf der weiß markierten Motorradspur in Richtung Reschenpass. Die ganze Welt scheint unterwegs zu sein – ich verzichte auf die Fahrt durch die Finstermünz-Schlucht und wähle die Serpentinen nach Martina. Das tut mir und der Ducati gut – die Reifen, unterschiedliche Fabrikate, vorne nagelneu, hinten drei Jahre und 2.500 km alt, finden mit jeder Kehre besser zusammen, gleichzeitig finde ich beim Schwingen durch die Kurven zurück zur Maschine. Und lerne wieder:
Erst wenn die 748 über den Tank, nicht mehr über die Lenkerstummel, geführt wird, und erst wenn der Druck in den Kurven aus den Beinen, nicht mehr aus den Unterarmen, kommt, erst dann wird aus der störrischen und bockstabilen Ducati 748s ein flinkes Supersport-Motorrad reinsten Wassers.
Alpenbollern.
Es geht los!
Samstag Vormittag: Wir sammeln uns. Aus einem „Wer begleitet mich mit meiner alten Ducati auf Straßen, für die sie nicht gebaut wurde?“-Aufruf im Reiseforum ist ein Treffen mit ungefähr 30 Teilnehmern geworden, die sich am Reschensee, vor dem berühmten Turm, in die Arme fallen. Alte und neue Freunde, alte und neue Motorräder. Aus dem großen Hallo wird ein großer Tross, der sich in Richtung Stilfser Joch bewegt.
Alpenbollern: Eine Ausfahrt mit alten Supersport-Ducatis, noch älteren BMWs oder Hondas mit dem Staub der Jahrzehnte auf den Speichen. Abenteuer-Schlachtschiffe und Atom-Dukes sind mit dabei, eine alternativ angetriebene Sommer-Kreation und sogar eine feine, edle Monster. Aber vor allem ist eines dabei: eine große Gaudi. Wir nehmen die 48 Kehren unter die Räder, vorbei an kämpfenden Radfahrern, einigen noch in den Anfängen steckenden Kollegen, Wohnmobilen mit magischen Warnblinkern, die offenbar die Straße verbreitern – aber all das und selbst das Verkehrs-Chaos auf dem Joch verdirbt uns den Spaß nicht: Wo wir sind, herrscht gute Laune!
Ducati
im Flow …
Abwärts, hinunter nach Bormio. Nicht 48, aber immer noch Dutzende Kehren, schmale, dunkle Tunnels und zwei breite Lamborghinis, die um die maximal falsche Linie durch die Kurven wetteifern. Ich finde an den breiten Aventadoren keinen Weg vorbei und verliere meine Freunde aus den Augen – zumindest ist der Zwölfzylinder-Sound gar nicht mal so schlecht und lässt in den Tunneln Feinstaub von den Felsen rieseln.
Bevor die Felslöcher komplett einstürzen, zirkele ich mich um die beiden Extrem-Sportwagen und erhöhe die Längsdynamik. Mittlerweile passt alles: Die 748 lässt sich auf jede gewünsche Linie stellen, die frisch gewartete Bremsanlage stoppt auf den Punkt genau, die Reifen beißen sich in den Asphalt.
Das ist er, der viel besungene Flow, der eine Ausfahrt nicht gut, sondern genial werden lässt. Es gibt dazu nur eine einzige Steigerung: Wenn die Gruppe, mit der man unterwegs ist, so gut harmoniert, wie ich es an diesem Wochenende erlebt habe.
Bergsteigen
Wir nähern uns dem Gavia-Pass. Dem Verkehrsinfarkt in Bormio knapp entflohen, geht es durch steinerne Dörfer, unter abbruchgefährdeten Berghängen hindurch flüssig durch den Wald, später etwas gehemmt über einen schmalen Wiesenweg, schließlich an schroffen Felswänden entlang, um noch weit vor der Passhöhe ein steinernes Hochplateau zu erreichen. Wilde Landschaft, auf den Berghängen ringsum vermutet man Steinböcke, Gemsen, Adler – und mitten drin ein Denkmal für die Gefallenen der Weltkriege. Hier oben, im Nichts, hat man sich die Köpfe eingeschossen – wenn man nicht schon vor dem Einschlag der Kugel im tiefen Schnee erfroren ist. Verrückt ..
Der Gavia ist nicht die erste Wahl für flüssiges und zügiges Motorradfahren – weder auf der Fahrt aus dem Valfurva hoch noch bergab nach Ponte di Legno spart Italiens zweithöchster Pass mit ruppigen und engen Abschnitten. Ich kann mich noch erinnern, als er wegen des Giro d’Italia asphaltiert wurde, vor mehr als 20 Jahren – der Belag ist immer noch der gleiche. Sportwagen stranden, kochende Wohnmobile verklemmen sich in den Spitzkehren, Einspur-Spezialisten wechseln wegen Höhenangst auf Linksverkehr. In meinen Augen ist und bleibt der Gavia ein Wilder, Wahnsinniger, Abenteuerlicher.
Ganz zu schweigen vom Passo di Mortirolo, der unter Radfahrern gefürchteter ist als selbst das Stilfser Joch. Auf diesem rudimentär asphaltierten Feldweg sind Freundschaften in großen Dramen zerbrochen – aber die Forums-Reisegesellschaft feiert sich, wie zuvor auf dem Gavia, vorerst auf der Passhöhe, von Drohnen überflogen und von Radfahrern umzingelt, um sich danach wie an der Schnur aufgezogen ins Veltlin hinab zu schwingen – das ist von hinten genial anzusehen.
Pizzoccheri
Wir füllen die Tiefgarage mit unseren Motorrädern – die Terrasse des Hotels mit uns. Hoch oben am Hang in Sondalo klebend, ist es das einzige mir bekannte Hotel, in dem die Zimmer unterhalb der Rezeption liegen und in dem zur Essenszeit Pizzoccheri, Weißwein und Motorradgeschichten den Speiseraum überschwemmen.
Zwei Ducatis müssen später, viel später, erneut los, sich nochmals den Mortirolo hoch arbeiten, bis zum Hotel Belvedere, wenige Meter unterhalb der Passhöhe – und bescheren ihren Lenkern neue Erfahrungen: Im Dunkeln beim Einlenken in die scharfen Kehren nur ins schwarze Nichts zu blicken und wegen ohne Fahrbahnmarkierungen den Verlauf der Straße nur ahnen zu können, das steigert den Genußfaktor des Absackerbierchens ins Unermessliche.
Geburtstag
auf dem Mortirolo
In diesem Hotel fast am Ende der Welt, ohne Mobilfunk oder W-Lan, ohne Fernseher im Zimmer, ohne Lesestoff, dafür schlaflos – mir bleibt nichts anderes übrig, als den Fahrzeugschein meiner Ducati zu lesen. Und siehe da:
Noch während ich kleine Buchstaben und Zahlen auf dem vergilbten Dokument entziffere, springt die Uhr auf Morgen und lässt meine Ducati 19 Jahre alt werden: am 21. Juli 2000 bekam sie ihr lustig wackelndes Nummernschild ans Heck geschraubt. Das Alpenbollern als Geburtstags-Tour, das finde ich so sensationell, dass ich am folgenden Morgen gleich eine passende Fahne hisse. Viva Italia, Viva Tamburini!
Bei Tageslicht fährt sich der „Tote Tiroler“ gleich wieder viel angenehmer – obwohl es zu regnen beginnt. Ich hab es wohl heraufbeschworen: Vor der Tour das Motorrad gewaschen und die Regenkombi nicht mit dabei … Aber nach dem zweiten Cappuccino im Hotel Rezia verziehen sich die feuchten Wolken und machen Platz für trocknende Sonnenstrahlen, damit wir zügigen Gases in Richtung Torri di Fraele und Laghi di Cancano aufbrechen können.
Dort oben, nach weiteren ungezählten Schräglagen und Serpentinen, bekommen die italienischen Schönheiten, Herberts Sissy und meine Parmesanfeile, einige Geländekilometer in die Reifen gefahren – Schaulaufen auf Schotter, quasi.
Erneut einsetzender Regen vertreibt uns vom Berg. Eigentlich hätte uns der Gavia nochmals hören sollen, aber im Valfurva hängen derartig bedrohliche Wolken, dass wir die Rettung auf dem Stelvio suchen. Begleitet von frechen Geländesport-BMWs, deren Überhol-Übermut von Sissy nach wenigen Kehren wieder gebremst wird, zerbollern wir die Straße aufs Stilfser Joch mit den beiden perfekt laufenden Maschinen aus Borgo Panigale.
Als letzten Höhepunkt feiern wir auf dem nahezu menschenleeren Umbrail-Pass eine redliche Menge Schräglagen, bevor mein Tag bei einem leckeren Apfelkuchen auf dem Dorfplatz Laas endet.
Das Video
Mein Freund Marock hat sich in den Folgewochen wieder selbst übertroffen und aus dem Alpenbollern einen genialen Film erstellt. Viel Spaß beim Mit-Bollern:
Eine Runde in meinem Wohnzimmer. Normalerweise wäre so eine Ausfahrt nicht der Schreibe wert, aber mit den Mimotos aus dem Reiseforum wurden diese zwei Tage etwas ganz Spezielles. Ich danke Euch allen, dass Ihr dabei wart – und ich dabei sein durfte!
Hoi Jürgen,
*seufz* .. für mich the very best Alpenbollern ever .. danke fürs dran erinnern =))
Es war ja ein echtes Special-Ducati-Wochenende .. deine Parmesanfeile wurde volljährig und für Gracia Monster hatte ich es eigentlich als Abschlussfahrt vorgesehen .. aber nach dem Alpenbollern war dann irgendwie alles anders *grins* jetzt hat meine Süße bald 60.000 km drauf & steht immer noch in meiner Garage..
Herzlichen Gruß
steph