Es begann mit Drogen, Nutten und Waffen, mit schwerst tätowierten Bikern und knappst belederten Ol’Ladies. Wenig Skrupel, viel Oberweite. Klingt eher nicht lustig? Nun, das waren die wichtigsten Zutaten von Sons of Anarchy, unserer damaligen Lieblings-TV-Serie – und diese ist Schuld an meinem Harley-Kauf. Aber lest weiter, denn es wird noch besser …
Eines Nachts stolperten wir, beim Zappen durch die TV-Sender, über eine derbe Szene in einem MC-Clubhouse: Ein von Alkohol, Drogen und Sex auf der Theke gut befriedigter Rocker schubste eine nackte Frau vom Sofa und goss sich erst mal einen Drink ein. Das irrsinnige, wahnsinnige und brutale Treiben des MCs rund um Jax Teller und Clay Morrow faszinierte uns sofort – nicht zuletzt wegen der Motorrad-Szenen mit laut brüllenden Harleys.
Zwischen einem Feuergefecht mit verfeindeten Gangs und einer durchgeXXXten Session im Clubhouse, wahrscheinlich lief auch gerade die Werbung über den Kanal, sprach Petra eines Nachts die magischen Worte:
Auf einer Harley
würde ich auch mitfahren
Während das Gemetzel im TV weiterging und ein paar Biker brutalstmöglich um die Ecke gebracht wurden, öffnete ich meinen Laptop: Harley-Davidson – gibt’s von denen überhaupt etwas, auf das ich mich setzen könnte? Und das ich fahren möchte, abgesehen vom Können?
Ich fand auf den einschlägigen Websites rostende Speichen in schmalen Felgen, vergilbte Weißwandreifen und auf dem Asphalt schleifende Fransen-Ledertaschen. Ich staunte über verchromte Totenköpfe und unsägliche „Live to ride before loud pipes save lifes“-Sprüche an allen Enden der „originalen Harleys“ aus Amerika. Ich meinte bis dahin ja immer, alle Harleys kämen aus Amerika. Ich las von Umbauten, die teurer waren als die Maschine selbst, und ich betrachtete „garantiert“ unfallfreie Maschinen, die schräger dastanden als die Sons nach einer Nacht im Drogennebel.
Sons of Anarchy
hatte viele Episoden
Nach ca. einem Dutzend Sons-Episoden wurde mir klar, dass es nur ein Tourer von Harley-Davidson werden kann. Eine Sportster mit 300 kg Totgewicht schien mir weder Fisch noch Fleisch zu sein, eine Break Out wird einem Motorradfahrer, der schon einmal 15° Schräglage überschritten hat, nicht verkauft, die Dynas boten zu wenig Sitzfläche für die Sitzfläche meiner Ol’Lady.
Tourer gab’s als Glides mit und ohne E in allen möglichen Varianten: Klassisch, Ultra-Klassisch und als CVOs nochmal besonders abgehoben. Alle einte ein Preis, der weit über dem Budget lag, das sich ein normaler Mensch für ein Motorrad setzen mag. Dabei war ich schon damals in Sachen Motorrad nicht normal …
Keines dieser raumgreifenden Monster gefiel mir, schon gar nicht mit airgebrushten Freedom-Viechern auf dem Lack. Mein Budget- und Geschmack-Filter spuckte am Ende den Road King aus: immer noch groß und schwer, aber irgendwie luftig, da ohne Verkleidung und ohne Top Case. Multimedia brauchte ich nicht, beleuchtete Funkmasten schienen mir sinnlos, nicht aber eine ordentliche Bremse.
Nach einigen Wochen fand ich ein interessantes Angebot – mit wenig Laufleistung bei realistischem Preis. Die unscharfen Smartphone-Fotos zeigten einen schwarzen Road King im Original-Zustand: Hartschalen-Koffer, Gussräder, kein peinliches Zubehör. Ich klickte auf
Mehr
Informationen bitte!
Giovanni, der Verkäufer, meldete sich nach einiger Zeit per Mail. Ja, der King sei noch zu haben, aber er würde „natürlich nur an wirklich Interessierte“ verkaufen. In meinem besten Italienisch verlieh ich meiner wirklichen Kaufabsicht Nachdruck – und erhielt die Aufforderung, ein Xing-Profil einzurichten. Denn er möchte „ganz genau wissen, mit wem er es zu tun hat“. Ob sich so ein Profil nicht auch faken läßt?
Bei allem Kaufwillen – das war mir etwas zu irre. Ich suchte weiter und – wie verhext – fand nichts mehr. Ein guter Freund und Harley-Experte aus Hamburg riet mir schließlich mehrmals, es doch mit Xing zu versuchen … Na dann. Giovanni gefiel das, er schickte umgehend Koordinaten eines Mailänder Vororts inklusive Zeit-Angabe für ein Treffen.
Meine Ol’Lady und ich machten uns auf den Weg.
Das Opel-Navi lotste uns in das hinterste Eck der lombardischen Metropole – dort fanden wir spät nachmittags den Prototypen eines Harley-Fahrers: er kam mit Harley-Jacke, Harley-Handschuhe, Harley-Helm, Harley-Hemd, Harley-Jeans, Harley-Gürtel mit Harley-Schnalle, Harley-Schuhe, Harley-Sonnenbrille, Harley-Halskette, Harley-Uhr, Harley-Schlüsselanhänger und vermutlich auch mit Harley-Unterwäsche …
Der King stand, gut versteckt von neugierigen Blicken, in einer Seitenstraße. Giovanni schien sehr um die Maschine besorgt und drängte auf zügiger Besichtigung. Diesem Wunsch kam ich natürlich nicht nach, denn der auf den Fotos schwarze und unscheinbare Road King entpuppte sich als bronzefarbenes Sondermodell aus der auf 1750 Stück limitierten „110th Anniversary Edition“, und er trug die fantastische Nummer 110, eingraviert auf dem Tank. Der Lack zeigte sich blitzblank, ohne ein einziges Staubkorn oder eine matte Stelle auf dem Chrom, die Reifen trugen noch volles Profil und die Ledersitzbank glänzte fett. Das war – soviel verstand ich mittlerweile von Harleys – eindeutig der
Jackpot!
Während Giovanni von seinem Job bei Harley-Davidson Italia (Tatsache!) erzählte und davon, dass er sich jedes Jahr ein neues Modell aus der Harley-Palette aussuchen könne, dass er mit diesem King nur selten gefahren sei, weil er Zugriff auf Fuhrpark-Motorräder hätte, wartete ich ungeduldig auf den erlösenden Handschlag.
Nach seiner Erzählstunde wurden wir uns innerhalb von Minuten einig.
Zwei Wochen später kam es in der gleichen Seitenstraße zum nächsten konspirativen Treffen. Ich übergab Ausweis, Papiere und einen fetten Scheck, Giovanni verschwand damit in einer Autoagentur und kam erst elendig lange Minuten später mit Schlüsseln und Fahrzeugschein wieder. Die Papiere übergab er mir – natürlich – in einer Harley-Mappe, Schlüssel und Transponder hingen an einem – klar – Harley-Schlüsselband. Der King stand gut versteckt in Giovannis geheimer Garage.
Am anderen Ende der Stadt fand gleichzeitig die EICMA 2014 statt. Giovanni war in Eile, denn der Standdienst bei Harley rief, die Übergabe des Kings wäre jetzt also etwas schwierig. Aber ganz Italiener und jetzt ja auch buon’amico, überkam es ihm spontan und er nahm uns einfach mit. In seinem klapprigen Kleinwagen berserkte er am Lenkrad, schoss er uns quer durch Mailand, sämtliche Kreuzungen und Kreisverkehre kreativ interpretierend, und irgendwie überlebend.
Giovanni kannte nicht nur alle Schleichwege durch Mailand, sondern auch die durchs Messe-Gelände. Gegen 19.00 Uhr fanden wir uns – zwar ohne Tickets, aber als VIPs – auf dem riesigen Stand von Harley-Davidson wieder; die Hells Angels passenderweise gleich vis’a’vis. Giovanni ließ sämtliche Standbesucher links liegen und zog uns in die Hospitality, denn Giovanni hatte Hunger. Wir wurden königlich verköstigt.
Nach Messe-Schluss marodierte uns Giovanni wieder durch Mailand („Fermi tutti, vengo io“) und warf uns irgendwo im Dunkel raus. „Scusate, ragazzi – aber meine Garage ist secreto, kann ich Euch nicht zeigen … wenn uns jemand gefolgt ist? Capisc‘?“
Giovanni hütete
ein großes Geheimnis …
Mir wurde klar: es ging wohl um die Mafia oder um die Camorra, auf jeden Fall um die Famiglia und eine Harley in einer Garage im Nirgendwo – dieses Geheimnis musste Giovanni bewahren. Ich schlich mich trotzdem hinterher, mein Geld hatte Giovanni ja schon.
Hinter einem faulen Blech-Tor stand er dann: DER King. 380 kg Stahl und Chrom. Ich ließ mich in den Sattel gleiten, legte meine Hände um die dicken Lenkergriffe – und dann fiel mir ein, dass meine Motorradstiefel zuhause geblieben waren. Aber darüber nachzudenken, ließ Giovanni nicht zu: er begann mir zu erklären, wo sich der Kupplungshebel befindet, wie richtig geschaltet wird, wie die Blinkerei funktioniert und wie sich die Koffer öffnen lassen. Außerdem wollte er mir zeigen, wie der King betankt wird.
Der gab mir ernsthaft eine Anfänger-Einweisung – Madonna mia …
Ich warf den V2 an und rumpelte durch einen engen Durchgang raus auf die Straße. Giovanni wollte wegen der Nachbarn eigentlich schieben, aber der King war jetzt mein, und Giovannis Nachbarn, die würde ich nie wieder sehen.
1 mm dickes, rostiges Blech – der perfekte Einbruchschutz
Ciao, liebe Nachbarn – macht’s gut!
Als Kind klingelte ich Sturm – als Mann nehme ich Schwermetall
… und jetzt schnell weg, bevor die famiglia aufwacht.
Petra musste in Giovannis Lancia die nächste Berserkerei durch Mailand ertragen – und ich hatte die Hände voll zu tun, um ihnen folgen zu können. Irgendwann wunderte ich mich über die nicht enden wollende Fahrt ins Hotel. Als zum dritten Mal das unfertige EXPO-Gelände auftauchte, riss ich den King an Giovannis Karre vorbei und fragte ihn freundlich nach seinen offenbar verloren gegangenen Ortskenntnissen. „Beh, weißu – bißchen fahre probiere mit de Harley in die Stadt machen“, meinte er unschuldig. Ich hielt ihm mit einem „Adesso basta!“ den Hotelschlüssel unter die Nase – und er verstand.
In der Hotel-Tiefgarage angekommen, erhielt ich noch ein abschließendes Intensiv-Seminar über mein neues Leben als Teil des „Mito Harley Davidson“, und den Hinweis, damit „assolutamente mai!“ auf das Harley-Treffen am Faaker-See zu fahren, denn dort würde meine schöne Maschine „sicuramente“ gestohlen werden.
Paranoia,
Giovanni-Level
In der Nacht zogen dichte Regenwolken auf. Die Suche nach meiner Lederjacke blieb erfolglos – ich hatte in der Aufregung fast alle Motorrad-Klamotten zuhause liegen lassen, und die Strafe folgte auf dem Fuß. Das Autobahn-Ticket fand noch einen trockenen Weg in meine dünne Stoffjacke, dann öffnete der Himmel seine Schleusen.
Das Windschild des Kings verteilte den Regen liebevoll in meinen Schritt, die Turnschuhe sogen sich voll. Der von Giovanni so liebevoll gepflegte King verlor seinen Glanz in einem übelriechenden Spray aus Reifengummi, Dieselruß und Motoröl – bereits in Bergamo saß ich im eigenen Saft und gröhlte „November Rain“ in den Helm. Mit meinen Gedanken war ich bei den Sons in Kalifornien, die auf ihren Fahrten alles andere als Regenwasser im Schritt spürten.
Bei Brescia hingen die schwarzen Wolken in Bodennähe. Im Blindflug prügelte ich mich durch den eiskalten Regen bis kurz vor Verona, um dort das blickdicht gewordene Windschild abzumontieren und zu Petra in den Wagen zu legen. Im warmen Wagen taute ich teilweise wieder auf …
Ein Jahr Pflege von Giovanni innerhalb weniger Kilometer zunichte gemacht …
Irgendwann … ließ der Regen endlich nach. Unter den letzten Strahlen der Novembersonne, breitschultrig am Lenker hängend, ließ ich mich trocken blasen. Der King kam gut in seinem neuen Heim an, und ging im Folgejahr auf die ganz große Tour: einmal quer durch den Alpenbogen, von den Dolomiten bis in die französischen Seealpen und zurück. Aber das ist eine andere Geschichte.
Giovanni
und ich
Zwischen Giovanni und mir entstand eine gute, wenn auch etwas einseitige Freundschaft. Jedes Jahr schickt Giovanni Bilder von einer Harley, die er mir gerne verkaufen würde. Auf der EICMA, gewiss keine kleine Veranstaltung, lief ich ihm mehrmals in die Arme, bekam dann feuchte Küsschen, aber leider keine Einladung in die Hospitality mehr. Von Xing ließ er ab, er empfahl mir aber im Ausgleich die Einrichtung eines LinkedIn-Kontos – und er hätte gerne seinen Sommerurlaub bei mir verbracht.
Mein Einzelzimmer-Zuschlag war ihm dann wohl zu hoch …