Die Reise ans Wasser

MotorProsa: Die Reise ans Wasser
Lesedauer // Reading time: 8 Min.

Geh mit mir auf eine Reise ans Wasser: Ich bring Dich an die Küste der Fünf Welten. Du stehst dann am Rand einer Klippe, tief unter Dir spielt das Meer mit einem nie zuvor gesehenem Blau. Die Sonne versinkt am Horizont, der Wind fährt durch dichte Kastanienwälder, die Luft schmeckt nach Salz und Kräutern.

Das Symbol von MotorProsa: die Füllfeder. Motorrad-Geschichten, geschrieben mit Passion

Die Fahrt hierher war nicht einfach, die Motorradtour steckt Dir tief in den Knochen. In jedem einzelnen. Deine Ohren dröhnen, Dein Rücken schmerzt, Deine Schultern sind verspannt, weil Dein Rucksack heftig daran zerrte. Eigentlich willst Du keinen einzigen Meter mehr fahren – aber Dein Helm liegt im Gras, Du genießt den Geruch der Macchia und vergisst dabei das Leder, das verschwitzt an Deiner Haut klebt. Jetzt ist alles gut.

MotorProsa: Die Reise ans Wasser

Nach 500 Kilometern da hinten drauf …

Du bist im kühlen Vinschgau losgefahren, der kräftige Oberwind hat Dich in den flimmernd heißen Bozner Talkessel getrieben. Weinberge haben Deinen Weg gesäumt, an Trento vorbei bis nach Verona. Du hast das altehrwürdige Mantova besucht, die unendlich weite Po-Ebene über schmale und holprige Straßen durchquert. Du hast riesige Ländereien bestaunt und Dich bei Parma, der Stadt des Parmesans, über die aus dem Dunst aufsteigenden Berge gefreut.

Du hast auf dem Beifahrersitz meiner Ducati den Passo della Cisa erlebt – die wohl schönste Art, den Apennin zu überqueren. Du hast von der Passhöhe in die Ebene gegrüßt, Dich durch dichte Vegetation hinab nach Pontremoli fallen lassen. Du hast das Verkehrschaos rund um La Spezia überstanden und die schneeweißen Yachten im Hafen bestaunt. Und nun blickst Du über die Riviera di Levante hin zum Horizont und wirst gleich in den „Cinque Terre“ – fünf kleine Ortschaften, die an der ligurischen Steilküste kleben – ankommen.

Monterosso

Nur noch wenige Kilometer über eine enge, von dunklem Wald gesäumte Straße, dann findet unsere Reise ans Wasser ihr Ziel. Nur noch wenige Minuten, dann stellen wir das Motorrad unter die Palmen des Hotels. Kein Wunsch ist größer als der nach einer kalten Dusche. Du wäschst Dir den Staub der Straße und den derben Geruch der Po-Ebene aus den Haaren, kühlst Deine überhitzten Füße. Müde fällst Du auf Dein Bett, träumst von Kürbisverkäufern und verfallenen Bauernhöfen, blickst nochmals von den Pässen des Apennin in die Täler und wirst mehrmals von der Eisenbahn geweckt, die am und im Berg durch die Nacht dröhnt.

Am Morgen wandert die Sonne über das Bettlaken hinweg über Deine Haut. Der Cappuccino dampft, Italien erwacht lautstark. Das Meer spült Muschelschalen auf den einzigen Sandstrand der Fünf Welten, zerschellt überall anders an der felsigen Steilküste. Eine von den tausenden Katzen der Cinque Terre beobachtet Dich, wartet ohne Scheu auf einen Rest Deines Frühstücks.

MotorProsa: Die Reise ans Wasser

… dolce vita …

Du machst Dich auf den Weg, flanierst über die Promenade, an Fischhändlern und Lebenskünstlern vorbei, lässt die salzige Luft an Deine Lippen und den Geruch der Kräutergärten in Deine Nase. Du wählst den steilen Weg über den Felsen, der die beiden Ortsteile von Monterosso trennt, lässt den Tunnel, um in die Altstadt zu kommen, unter Dir. Du kannst den Blick nicht vom Meer unter Dir lassen – dieses Blau ist magisch anziehend.

Jeder Winkel von Monterosso erzählt Dir alte Geschichten, die neu für Dich sind. Die abenteuerlich ineinander gebauten und bunt bemalten Häuser überwältigen Dich. Du findest einladende Nischen zum Verweilen, in zahlreichen Shops Schätze zum Mitbringen und Behalten und Träumen, aus unauffälligen Restaurants duftet es sensationell.

Was Du nicht findest, sind sich stauende Autokolonnen, Diskotheken und animierter Lärm. Die Cinque Terre sind Weltkulturerbe, werden so bleiben, wie sie einst waren. Hier darf nicht mehr neu gebaut werden, hier wird Altes bewahrt.

Weinterrassen klammern sich an die zerklüftete Steilküste, nur scheinbar verlassene Friedhöfe thronen weit oben, erlauben den Toten Blicke in die Ferne. Steinige Maultierpfade schlängeln sich über den Berg und verlieren sich im Grün der Olivenhaine. Die Hitze wird unerträglich. Der Strand ruft, ist wahrscheinlich überfüllt – aber nach einer kleinen Klettertour um den „Gigante“ – ein imposanter Felsvorsprung – legst Du Dich auf einen einsamen, großen Stein und lässt Dich von der Gischt benetzen.

Der Nachmittag vergeht schnell, die Promenade ruft erneut. In den Restaurants an der Promenade wird die ligurische Küche gefeiert: frisch gefangene Meeresfrüchte, hausgemachte Pasta mit süchtig machendem Pesto, Nüsse, Kastanien. Aus der warmen Focaccia trieft schmackhaftes Olivenöl, läuft über Deine Finger, und immer steht ein schwerer, süßer Weißwein bereit: der göttliche Sciacchettrá der Cinque Terre. Cremiger Espresso beschließt einen Tag der Genüsse, begleitet Dich in die Nacht.

Vernazza

Vernazza, das Nachbardorf, liegt hinter dem Berg. Die Bahn, neben dem Schiff das einzig sinnvolle Verkehrsmittel hier, bringt Dich dorthin. Auch für den Bahnhof gibt es hier wenig Platz, Du musst mitten im Tunnel aus dem Zug steigen. Im Freien blickst Du Dich um und erlebst die Cinque Terre von ihrer schönsten Seite: nirgends in den Cinque Terre sind die Gassen so eng und verwinkelt wie hier. Hier sind die Fischerboote besonders bunt, die Hauswände besonders farbig, die Katzen besonders faul … und steigst Du hinter dem Dorf auf den Berg oder wanderst zum vorgelagerten Kastell Doria, wirst Du mit einem der schönsten Ausblicke auf das glasklare Meer belohnt.

Corniglia

Auch nach Corniglia gelangst Du nur mit der Bahn. Oder mit einem Boot. Oder zu Fuß. Aber dort angekommen, bist Du noch lange nicht da …

Das Dorf liegt nicht am Wasser, sondern thront wie ein Adlernest auf einer Klippe hoch oben über dem Meer. Du musst ungezählte Stufen emporsteigen, unter den Blicken von Eidechsen und Heuschrecken, ehe Du das ursprünglichste Dorf der Cinque Terre erleben kannst. Nur relativ wenig Menschen nehmen den beschwerlichen Aufstieg auf sich. Es gibt kein Hotel und nur zwei Gasthäuser – wenn Du tiefe Ruhe und Entspannung suchst, dann bist Du hier richtig … Such Dir einen warmen Felsen, genieß den Tag!

Manarola und
 Riomaggiore

sind die übrigen beiden Welten. Auch hier spazierst Du vom Hafen kommend durch enge Gassen, die sich in der Höhe verlieren. Du steigst über verwinkelte und ausgetretene Stufen, blickst durch kleine Fenster in schmale Häuser, freust Dich über die Farben der Fassaden. Hier lernen Nachbarn, miteinander auszukommen, die berühmte Tasse Mehl kann von Haus zu Haus gereicht werden. Einzig in Riomaggiore – italienisch für „Der große Bach“ – ist die Hauptstraße etwas breiter; unter dicken Steinplatten verdeckt rauscht der Bach ins Meer.

Abschied 
von den Cinque Terre

Cinque Terre. Fünf Tage, Fünf Welten … Du musst Dich am sechsten Tag leider von dieser magischen Landschaft lösen. Wieder auf dem Motorrad, geht es steil und kurvig den ligurischen Apennin hoch. Das Blau der Riviera blitzt noch ein paar Mal durch die Bäume, ehe Dich hügeliges Hinterland auf dem Weg in den hektischen Norden begleitet. Nach fünf Tagen in engen Gassen, im Schatten bunter Häuser verwirrt Dich die weite, eintönige Po-Ebene. Spät abends steigst Du das letzte Mal vom Motorrad, legst in Marniga, einem kleinen Nest am Ostufer des Gardasees, Dein Leder in die Ecke. Die beiden Flaschen Sciacchettrá im Rucksack wogen schmerzhaft schwer, schon wieder – aber Du freust Dich auf den Genuss, zuhause.

MotorProsa: Die Reise ans Wasser

Zwischenstopp am Gardasee

Marniga

Bei einer Pizza mit Nüssen und Trüffelsauce blickst Du über den See, siehst am Ufer gegenüber die Lichter Limones und der Dörfer auf dem Tignale. Die letzten Boote gleiten über das dunkle Wasser des Benaco, Schwäne ziehen sich zurück, die Schmerzen der langen Fahrt verschwinden endlich aus Deinen Knochen.

In der kleinen Bucht unterhalb von Marniga gehst Du am nächsten Tag zum letzten Mal in das Wasser. Es ist trüber, wärmer als jenes in Monterosso. Unter Deinen Füßen kein Sand, aber grobe Steine. Es schmeckt nicht salzig … Du bist entspannt und zufrieden.

Halt Dich an mir fest. Ich bring Dich über Madonna di Campiglio, durch das Val di Sole und den einsamen Gampenpass zurück nach Haus. Denk nicht an den Stau bei Arco, denk nicht über die stockende Fahrt durch den Vinschgau nach. Denk nicht an Deine verspannten Muskeln und Deine dunklen Fingernägel, wegen der abfärbenden Handschuhe. Denk an den letzten Schluck Weißwein auf der Hotelterrasse in Monterosso, und sag mir:

Fährst Du
 nochmal mit?

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2 Gedanken zu „Die Reise ans Wasser“

  1. Kurz gefasst, reich an Details und Eindrücke in Worte beschrieben, die nur einer auf das Papier bringen kann der mit der Seele schaut.
    Eintauchen in ein Erlebtes ….
    Grüße
    Manfred

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