
Während einer Fahrt durch das Unterengadin kam mir Goethe in den Sinn: „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.“ Keine Stunde von Zuhause entfernt, bietet das Unterengadin wunderbare Landschaften, Traumstraßen und verwunschene Orte für Genießer. Lust, mich auf dieser Fahrt zu begleiten?

Eigentlich liegt mein Heimatort Schluderns in Sichtweite von Graubünden. Trotzdem war mir das Land hinter dem Schlagbaum jahrelang unbekannt. In meiner Kindheit bedeutete „Wir fahren in die Schweiz“: Volltanken direkt hinter der Grenze. Müstair, das Dorf nur einen Kilometer weiter, haben meine Eltern wahrscheinlich nie besucht. Den Ofenpass erlebte ich zum ersten Mal mit 19, auf einer Cabrio-Fahrt mit Freunden.
Das Val Müstair und das Engadin blieben bis Ende der 1990er Jahre Terra Incognita für mich. Das änderte sich, als die Partnerin meines Motorradkumpels in Scuol eine Arbeit fand: Wir feierten bei unseren Besuchen tiefe Schräglagen, ohne von den Schweizer Strafen zu wissen – und hatten Glück. Die Rundfahrt Reschenpass – Unterengadin – Ofenpass – Vinschgau wurde zur Alternative, wenn sich der Verkehr zuhause staute. Was er schon damals immer tat …
2004 fand auch ich einen Job in der „Fremde“. Ich lernte das Val Müstair kennen, kam in Kontakt mit den Einheimischen und wohnte eine Zeit lang vor Ort. Und: Ich habe einige Brocken Rätoromanisch gelernt, die uralte Sprache dieses Landstrichs.
Kürzlich lief „Mit dem Postauto durch das Engadin“ im TV. Interessiert verfolgte ich die Fahrten der gelben Busse – Ortsnamen wie Ftan, S-charl oder Tarasp waren mir zwar bekannt, nicht aber die gezeigten Landschaften. So gut ich mich an den Straßenverlauf im Unterengadin erinnern kann – den Asphaltpanorama-Effekt kann ich nicht leugnen: Alles links und rechts der Fahrbahn habe ich nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Definitiv ein Manko.
Die ruhigen Landschaftsaufnahmen in der Reportage waren so einnehmend, dass ich mich umgehend mit meinem Motorrad aufmachte, um mir das Unterengadin genauer anzusehen.
Mit offenen Augen
durchs Unterengadin
Der Weg von Laas bis zur Malser Haide liegt schnell hinter mir; dort, in den weiten Kehren des Reschenpasses, beginnt der Motorradtanz. Kurze Sprints, tiefe Schräglagen, zügiges Klettern in Richtung der beiden Seen. Auf der Fahrt bis zum berühmten Turm zieht die Zero SR/F circa 20 % Ladung aus dem Akku – es bleibt viel Spielraum für die weitere Strecke.

Meine Zero SR/F vor dem Turm von Altgraun
Der Reschenpass öffnet sich in die Ebene des Fuhrmannslochs. Schnurgerade ziehen ereignislose Kilometer vorbei, ehe mein Weg bei Nauders zur Norbertshöhe abzweigt und ich das nächste Highlight erlebe: die Talfahrt nach Martina (CH). Das sind sechs serpentinenreiche Kilometer, pures Fahrvergnügen und Genuss. Immer wieder bieten sich Ausblicke, die mehr verbergen als zeigen. Die Straße schneidet sich bestens ausgebaut durch den Wald, überquert im Talboden den Inn und endet am Zollgebäude. Allegra! Die Schweiz ist erreicht.
Angekommen
im Unterengadin
Ich wähle den Weg durch Martina und entdecke kühl gestaltetete Häuser mit dezent verzierten Fassaden. Alles ist ordentlich, sauber, nahezu vorbildlich – und reizt nur bedingt zum Anhalten. Daher wird Tschlin, eines der schönsten Dörfer der Schweiz, mein erstes Ziel. Der Ort sonnt sich auf einer Gebirgsterrasse. Kurven aller Radien bringen mich bergan; mehrmals stoppe ich, um die Landschaft auf mich wirken zu lassen. Aus über 1500 Metern Meereshöhe blicke ich auf flache Hänge, auf den sich im Tal windenden grünen Inn und auf schroffe Bergriesen.
Es herrscht Ruhe im scheinbar verlassenen Dorf. Die Häuser sind liebevoll mit Blumen, Antikem und vielleicht auch zufällig Gefundenem dekoriert und tragen, natürlich, die Symbole der Jagd an den Wänden: Entfleischte Wildschädel mit Geweihen aller Größen erzählen vom kleinen Sieg des Menschen über die Tierwelt. Das kann man seltsam finden, aber ohne diese Folklore würde dem Ort etwas fehlen.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die knapp 400 Einwohner hier gerne leben. Gut, dass ich mit meinem leisen Motorrad die Idylle nicht störe – nur die Reifen rumpeln auf dem Kopfsteinpflaster.

Blick über die Sonnenterrassen
Tschlin ist klein und somit schnell durchfahren. Die Seitengassen lasse ich unbesucht – ein flüchtiger Blick muss reichen. Das ist ein Ort, der zu Fuß erlebt werden will, mit Zeit zum Suchen und Staunen.
Die Weiterfahrt bringt mich zurück ins Tal; bei Ramosch gelange ich über einen etwas verwahrlosten Weg zu einer überdachten Holzbrücke. Von ihrer Brüstung aus betrachte ich Fischer an den Ufern des Inn, fotografiere bunte Figuren am Brückenportal. Die Assa schlängelt sich als dünner Faden Wasser durch ihr Schotterdelta und um riesige Steine herum – die Naturgewalten, die diese Brocken aus den Bergen gerissen haben, sind für mich unvorstellbar. Gerne würde ich dem Uferpfad bis nach Sur En folgen, aber ein Verbotsschild rät davon ab.
Mein nächster Halt ist der Friedhof am Ortsausgang vom Ramosch. Von hier bietet sich ein guter Blick auf die Burgruine Tschanüff. Infotafeln informieren über die Geschichte des Bauwerks. Interessant zu erfahren: Auf Tschanüff herrschten im 14. Jahrhundert die Herren von Matsch; deren Stammsitz war die Churburg oberhalb von Schluderns – mein Heimatdorf, nur 25 Kilometer Luftlinie entfernt.
Fünf Kehren später erreiche ich Vnà – dort geht es selbst auf zwei Rädern nicht mehr weiter, also vertrete ich mir die Beine. Dabei entdecke ich auf der gegenüber liegenden Talseite ein aus den Bäumen ragendes Bauwerk: Das Hotel Val Sinestra, ein uraltes Kurbad. Da will ich hin.

Skulptur in Vnà
Der Weg dorthin startet in Sent, in einem Labyrinth schmaler, kopfsteingepflasterter Gassen zwischen Häusern mit dicken Mauern. Gemütlich: Vor nahezu jedem Hauseingang lädt eine hölzerne Sitzbank zum Innehalten ein, rätoromanische Sinnsprüche, als Sgraffito in die Fassaden geritzt, fordern meine Sprachkenntnisse heraus. Sent ist wunderschön anzusehen, ich vertreibe mir die Zeit beim Erforschen der vielen verwinkelten Wege.
Val
Sinestra
Nach dem Stromern durch Sent mache ich mich auf den Weg ins Val Sinestra. Dieser führt schmal aus dem Ort und steigt zu Beginn leicht an, um nach wenigen Kilometern unbefestigt und flach in den Wald einzutauchen. Schotter wurde von vielen Fahrzeugen in den Untergrund gedrückt, selbst mit meinen schwach profilierten Reifen komme ich also gut zurecht. Dichtes Moos überzieht den Waldboden, Modergeruch zieht in meine Nase. Zu Tal stürzendes Wasser mischt sein Rauschen in jenes der vom Wind bewegten Bäume, Blicke in die unendlich tiefe Schlucht am Fahrbahnrand reizen meine Höhenangst. Jetzt bloß nicht vom Weg abkommen!
Ich passiere derbe Erosionsnarben, fürchte mich auf einer schmalen Brücke über dem Nichts und erblicke schließlich die imposante Fassade des Hotel Val Sinestra. Sie ragt majestätisch in die Höhe, wohl über ein knappes Dutzend Stockwerke hinweg. Noch verhindern Bäume das Erkennen der wahren Dimensionen dieses Hauses, doch einmal den dahinter liegenden Parkplatz erreicht, verfalle ich in Staunen. Vor mir steht ein klassisch gezeichnetes Gebäude, auf einer Felskante thronend, von zwei Türmen umarmt.

Das altehrwürdige Hotel Val Sinestra
Grober Schotter knackt unter mir, als ich mich dem Hotel nähere. Es wirkt auf den ersten Blick ein wenig verlebt, aber mit jedem Meter weniger Distanz offenbaren sich Wundersames und Einzigartiges. Hier gibt es noch Kerzenhalter anstelle von LED-Lampen, breite Treppenhäuser anstelle von Turbo-Aufzügen, riesige Badezimmer mit Handtüchern und Toilettenpapier auf eigenen Tischen anstelle von Chemie-Klos. Das ist ein in der Zeit stehengebliebener Ort der Ruhe. Ich lasse mich in einen Ohrensessel im Foyer nieder, versuche, mir die Glanzzeiten dieses Hauses vorzustellen: Welche Musik drang wohl aus der Bar? Wieviele Sprachen schwebten durch die Gänge? Wie mag es im Speisesaal gerochen haben, wie weit mag man wohl beim Blick aus dem Turmzimmer sehen?
Es gefällt mir hier.
Auf dem Weg zurück hänge ich meinen Foyer-Gedanken noch lange nach. Und eigentlich möchte ich noch gar nicht weg. In diesem besonderem Haus möchte ich gerne ein paar Nächte verbringen. Irgendwann …

Erfrischung auf dem Weg durch das Val Sinestra
Über ein wunderbares Stück Asphalt fahre ich von Sent in den Hauptort des Unterengadin – und lasse ihn links liegen. Denn Scuol kenne ich noch von früher, außerdem lockt mich das kleine Schild mit der Aufschrift Val S-charl viel mehr.
Val
S-charl
Erneut geht es zügig und kurvenreich in die Höhe. Gleich hinter der Inn-Brücke führt der Weg in dichten Wald, legt sich dort in mehrere Serpentinen und verläuft schließlich am Rand der wilden, dramatisch in die Tiefe fallende Clemgiaschlucht entlang. Wenige Kilometer später bauen sich nie gesehene Schotterwüsten vor mir auf, und irgendwann verabschiedet sich der ohnehin beschädigte Asphalt komplett.

Unendliche Schutthalden, Geröll in Massen
Ich tauche in eine rohe Wildnis ein, folge staubigem Schotter tiefer ins Tal. Die Urgewalten der Natur werden mir erfahrbar, ich rolle über mehrere, hoch aufragende Schutthalden. Die Schneisen im Gebirge, aus denen diese Gesteinsmassen ins Tal brachen, schneiden kilometertief und wüst in die Berge. Nun wird mir auch der Sinn hinter den Schildern, die vor einer Befahrung des Val S-charl bei Schlechtwetter oder drohenden Gewittern warnen, klar; das ist dann kein sicherer Ort.
Nun nur noch im Schritttempo unterwegs, nehme ich die intensiv über mich hereinbrechenden Impressionen auf: Lawinenreste, Geröllberge, Schwemmholz, Tunnels, Kraftwerksbauten, senkrechte Felswände, freigefahrene Wurzeln und das permanente Rauschen des Wassers – WAS für ein Tal!

Unglaubliches Val S-charl
Vor dem kleinen Dorf S-charl, einer ehemaligen Bergarbeiter-Siedlung, weitet es sich etwas, erlaubt grüne Flächen und einen gut genutzten Parkplatz. So abgeschieden ist das Tal also gar nicht; Gastwirtschaften locken mit deftiger Küche und Steckdosen für E-Bikes, Trails und Wanderwege erschließen den Talschluss, führen weiter oben im Fels hinüber in den Vinschgau.

Ob ich meine Zero auch ankabeln darf?
Und natürlich gibt es eine Haltestelle für das Postauto.
Das alles muss erst ein wenig in mir sacken, das habe ich so nicht erwartet. Ich lehne mich an das Geländer einer kleinen Brücke und sehe der Clemgia eine Zeit lang in ihrem Fluss zu, bevor ich nach Scuol aufbreche. Die größten Überraschungen habe ich schon hinter mir, dennoch beeindruckt mich auch die Rückfahrt nachhaltig. Scuol bleibt erneut links liegen.
Auf der gut ausgebauten und wenig befahrenen Strecke Richtung Zernez genieße ich den Fahrtwind mit offenem Visier. War ich Minuten zuvor, auf Schotter, kaum zweistellig schnell unterwegs, lasse ich nun das immense Drehmoment der SR/F frei, vertraue auf die Rauheit des Asphalts, den Grip der Reifen und fahre tiefe Schräglagen als größtmöglichen Kontrast zum Motorradwandern durch das Val S-charl.
Nochmal stoppe ich oben am Berghang. Ich schaue mir Guarda an, die Heimat vom Schellen-Ursli. 1945 hat die Autorin Selina Chönz seine Geschichte aufgeschrieben und damit das bekannteste Kinderbuch der Schweiz geschaffen. Nun stehe ich allein im kleinen Museum mitten in Guarda und tauche in Urslis Geschichte ein. Ich denke an die Engadiner Kinder, die jedes Jahr am 1. März mit ihren Glocken durch die Gassen ziehen und mit diesem rhythmischen Lärm den Winter vertreiben. Chalanda Marz – für einige der größte Tag im Jahr.

Unterwegs in Guarda, der Heimat vom Schellen-Ursli

Farbenfrohe Fassade in Guarda

Das Postauto fährt natürlich auch durch Guarda
Es wird Zeit, wieder nach Südtirol zu kommen. Nur noch wenige Kilometer liegen zwischen mir, Zernez und dem Val da Spöl, das mich auf den Ofenpass bringen wird. Zernez passt dabei so gar nicht zu den anderen, heute besuchten Orten: Es brannte 1872 beinahe vollständig nieder und wurde zu einem großen Teil im städtischen Stil neu erbaut.

Ladestopp in Zernez – mit WLAN aus der Rhätischen Bahn
Il Fuorn. Nur noch eine halbe Stunde trennt mich von der Grenze zu Italien, und in diesen 30 Minuten genieße ich eine der schönsten Motorradstraßen weitum. Kurvenreich und steil, dann wieder flach und über weite Strecken geradeaus durch den Nationalpark verlaufend, entlang von tiefen Abgründen und immens breiten Bachbetten, bietet die Strecke alles und mehr, was man auf zwei Rädern begehrt.
Aufmerksame Augen entdecken in der Landschaft Verwüstungen durch Lawinenabgänge, Reste uralter Kalköfen, schroffe Seitentäler und abends das wilde Leben zwischen den sich selbst überlassenen Bäumen. Die erlaubten 80 km/h Höchstgeschwindigkeit sollte man in der Dämmerung nicht mehr auskosten – es lebt viel Rotwild hier und beansprucht seinen Raum.

Blick zurück – Das Unterengadin ist grandios
Knapp 250 Kilometer liegen hinter mir, sie haben mir mindestens ebensoviele neue Eindrücke geschenkt. Das Unterengadin, quasi vor meiner Haustür gelegen, zeigte sich als vielschichtiger Landstrich. Ich werde auch künftig die Augen offen halten.

Schweiz – Immer schön nach Vorschrift fahren
[lmt-post-modified-info]

Danke fürs Mitnehmen. Und auch hier dachte ich wieder: ich muss mich mal zu Dir einladen, damit wir Touren wie diese gemeinsam fahren können!
Lieber Alexander,
Du bist jederzeit herzlich willkommen!!