Ultracycling – Fahr‘ weiter als der Rest

Selfie mit einem Star der Ultracycling-Szene: Omar di Felice
Lesedauer // Reading time: 6 Min. Selfie mit Omar di Felice, Star der Ultracycling-Szene

Ultracycling ist eine etwas verrücktere Spielart des Radfahrens. Wobei – mit „Spiel“ hat es wenig zu tun. Im Herbst 2017 begleitete ich einen Protagonisten dieser sportlichen Qual, Omar di Felice, auf seinem Weg zum Stilfser Joch. Das hat mich nachhaltig beeindruckt …

200 Jahre Stilfserjoch-Straße (Logo)
Das Symbol von MotorProsa: die Füllfeder.

Im Frühjahr 2017 stieß ich auf ein fesselndes Facebook-Profil. Omar, ein Rennradfahrer aus Rom, veröffentlichte mehrmals täglich Fotos seiner Fahrten auf das verschneite Stilfser Joch. Fotos vom Morgen, vom Nachmittag, vom Abend, immer ergänzt mit tiefsinnigen und persönlichen Texten. Zu Beginn dachte ich „Radfahrer eben, leicht verrückt“. Doch irgendwann begeisterte er mich.

Nichts gegen Radfahrer. Auch in meiner Garage standen zwei MTBs und mein schon damals 40 Jahre altes Rennrad aus Jugendjahren. Damit wollte ich einen Ausgleich zum Bürojob schaffen – aber, so ehrlich muss ich sein: Sie dienten vor allem als Staubfänger. Selbst bei größtem Enthusiasmus fuhr ich selten weiter als 50 Kilometer pro Woche. Die Steigungen zu heftig, die Temperaturen unangenehm oder der Vinschger Wind zu kräftig – ein Grund, um NICHT fahren zu müssen, fand sich immer.

50 Kilometer lockten Omar nur ein mildes Lächeln hervor – die fuhr er als Aufwärmübung noch vor dem Frühstück. Seine Passion: „Ultracycling“. Für mich war bereits der kurze Anstieg hinter meiner Wohnung eine Ultra-Herausforderung; beim Ultracycling hingegen geht es um Tagesetappen von 500 Kilometern und mehr, 24-Stunden-Rennen, fünfstelliges Höhenmeter-Sammeln, Umrunden von ganzen Ländern oder das Queren von Kontinenten – alles gern ohne Begleitfahrzeug oder nur mit minimaler Betreuung. Also, eindeutig ultra.

Mit diesem Wissen verfolgte ich Omars Marathonfahrten, freute mich über seine Siege bei Endurance-Rennen und markierte ihn als Favoriten, damit er stets als erstes aufpoppte.

Italy
 Unlimited

Omar schrieb außerdem über sein bis dahin größtes Projekt: Italy Unlimited. Eine Solofahrt auf der Route des 2017er Giro d’Italia. Über 3500 Kilometer, aber nicht in Etappen, sondern nonstop gefahren. Dass diese Tortur über den Stelvio führen musste, war unvermeidlich. Und mir wurde schließlich auch klar: DESWEGEN kletterte er mehrmals täglich auf das Stilfser Joch.

Das wollte ich mir ansehen. Ende September war es soweit – via Live-Tracking verfolgte ich Omars Fahrt quer durch Italien, und als abschätzbar war, wann mein Hausberg an der Reihe sein würde, machte ich mich auf den Weg zur Kreuzung Umbrailpass-Stilfser Joch.

Natürlich nicht mit dem Fahrrad, sondern im bequemen Auto. Seit dem Start in Rom hatte Omar bereits mehr als 2000 Kilometer in den Beinen, hatte das Pedalieren nur auf der Fähre von Sizilien nach Sardinien bzw. aufs Festland unterbrochen. Auf Italiens höchstem Pass warteten die Nacht, Nebel und minütlich fallende Temperaturen auf ihn. Außerdem kündigte sich Schneefall an.

Ultracycling-Fan, als Weichei im Wagen

Ultracycling-Fan, als Weichei im Wagen

Ich versuchte, geduldig zu bleiben, aber die Kälte gewann. Die Heizung im Stand zu befeuern, war mir zuwider, also fuhr ich talwärts. Unweit der Malga di Bormio tauchte aus dem dicht gewordenen Nebel ein einzelnes LED-Licht auf, dahinter blinkte ein auffälliges Begleitfahrzeug – das musste er sein. Ich streckte meine Faust aus dem Fenster und rief ihm ein „Forza Omar, sei grande!“ entgegen. Er schien komplett in Trance, erwiderte nur ein leises „Ciao“. Ich wendete und rollte mit Respektabstand hinterher. Dabei konnte ich den Tempomat nutzen, derartig gleichmäßig trat der Bursche seinem Ziel entgegen.

Ultracycling:
 Nachts, alleine, bei Minusgraden

Auf der Passhöhe übergab er das Rad mit den Worten „Ich brauch‘ einen Teller Pasta“ seiner Crew. Ich wurde später, nach zwei verschlungenen Portionen Pizzoccheri, ins Restaurant gebeten. Omar dankte mir mehrmals für die Begleitung und bat um ein Video-Interview. Er freute sich sichtlich, denn ich war der einzige Tifoso, der sich um diese Zeit und bei diesem Wetter – mittlerweile schneite es in der Tat – aufs Joch wagte.

Zwei Teller Pasta, bitte ungestört

Zwei Teller Pasta, ungestört

Ein sympathischer Typ, mit selbst nach dieser Anstrengung noch strahlenden Augen. Unglaublich. Nach meinen lächerlichen Fahrradtouren war ich stets niedergegart und bereit zum Auseinandergefasert werden. Omar jedoch startete in Rom, fuhr nonstop nach Sizilien, rund um den Ätna und quer über die Insel, anschließend durch Sardinien und von Genua bis in die Alpen, um dort grinsend auf knapp 2800 Metern Höhe zu stehen – und sich als Nächstes auf den Weg in die Dolomiten, nächster Halt Gröder Joch, zu machen.

Ich fuhr nach dieser Begegnung extrem beeindruckt zurück ins Tal und kontrollierte noch in der gleichen Nacht den Luftdruck meines MTBs. Denn …

das
 schaff‘ ich auch …

Nein, natürlich nicht eine Solotour über 3500 Kilometer. Aber aus eigener Kraft auf den Stelvio zu gelangen, das sollte selbst ich irgendwie schaffen? Dieser Gedanke schwirrte bereits einige Zeit in meinem Kopf herum – aber es gab natürlich auch hier immer einen Grund, es nicht zu versuchen. In dieser Herbstnacht allerdings überzeugte mich der Anblick dieses unwiderstehlich in die Höhe drängenden Helden: Mir schien ALLES möglich.

Ich versprach mir noch in dieser Nacht selbst, im Herbst 2018 die Ostrampe des Stelvio mit dem Fahrrad zu bezwingen, die circa 30 Kilometer, knapp 1900 Höhenmeter und die berühmten 48 Kehren aus eigener Kraft zu überwinden. Dass dafür meine üblichen 50 Wochenkilometer als Training nicht ausreichen würden, wusste ich.

Der Beginn meines Projekts 2018. Übrigens: Felice bedeutet „glücklich“. Nach Erfüllung meines Versprechens würde ich das auch sein.

Das Symbol von MotorProsa: die Füllfeder.

Zum 200jährigen Bestehen der Stilfserjoch-Straße habe ich meine Fahrrad-Texte aus 2018 überarbeitet und neu veröffentlicht. Viel Spaß beim erneuten Miterleben!



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