
Eine 15 cm breite, weiße Linie, mein Vorderrad rollt in Schlangenlinien langsam auf ihr entlang. Je nach Steigung treffe ich den Strich mal besser, meist schlechter. Mein Blick fixiert die App mit dem Höhenmesser: Ob die 1000 Höhenmeter heute fallen?


Sie liegen vor mir: DIE 48 Kehren. Nach dem kurzen Aufwärmkilometer hinter Gomagoi zwingt mich die ansteigende SS 38 zum Runterschalten, immer wieder. Ich fahre heute das leichteste Gerät aus meiner Garage, das Cube Race One: ein Hardtail-MTB mit 29 Zoll-Rädern und jeder Menge Gänge. Eine Handvoll davon ist allerdings nutzlos geworden, weil sich die Schaltzüge gelängt haben. Einstellarbeiten wären von Nöten, die Kette kratzt am Umwerfer.
Start
in Gomagoi?
Dann ist’s ja einfach – warum denn nicht gleich auf der Franzenshöhe starten? Naja, ich musste lernen: Ab 20.30 Uhr wird es langsam dunkel und schnell kalt. Starte ich zuhause um 18.00 Uhr, schaffe ich es zwar easy bis nach Trafoi, muss dann aber umdrehen. Hinzu kommt: Die Straße Richtung Gomagoi wird relativ stark von Idioten befahren. Ich werde mehrmals mit minimalem Abstand überholt, mit Scheibenwisch-Wasser bespritzt und abgedrängt.
Es ist schlicht und ergreifend stressfreier und wesentlich gesünder, mit dem Auto ein Stück ins Trafoier Tal zu fahren und dort zu starten, wo weniger Verkehr herrscht.
Meine Beine brennen bereits, der Brustgurt misst, keine zwei Minuten nach dem Start, Puls 160. Das heutige Training scheint zu enden, bevor es richtig begonnen hat, denn so wird das nichts, kann das nichts werden. Durch die Steinschlaggalerie quäle ich mich noch, dann wechsle ich auf die leichteste Übersetzung und torkle langsam auf der weißen Linie entlang.
Kehren
sammeln
In Kehre 48 liegt ein Konvolut aus Blinkergläsern, garniert mit Gehäuseplastik an dunklen Ölflecken. Das untrügliche Zeichen, dass die Motorradsaison begonnen hat. Ich zwinge mich zu langsamer Fahrt, konzentriere mich in der Steigung bis knapp vor dem Hotel Tannenheim auf ein gleichmäßiges, ruhiges Treten, mein Puls pendelt sich so bei 140 Schlägen ein. Tief unter mir brodelt der Trafoier Bach, bringt den Schnee des Winters und den Schutt der Berge mit wilder Gewalt ins Tal. Die von den Begrenzungsmauern abstrahlende Wärme lässt nach, ein übel riechender, kalter und feuchter Luftzug aus der Tiefe übernimmt.

Sorgt für Erfrischung – der Trafoier Bach
Das Brodeln wird künstlicher und lauter, als zwei Supermotos auf kuriosen Linien an mir vorbeizimmern. Ich könnte das – ohne falsche Bescheidenheit – besser. Das Chrom der beim Hotel Tannenheim parkenden Motorräder blitzt in meinen Augenwinkeln, aus einer Garage in Trafoi springt mir der Scheinwerfer einer KTM 1290 Superduke R in den Blick. Ich fahre wieder das mittlere Kettenblatt und das große Ritzel. Meine Trittfrequenz ist aushaltbar, der Puls bleibt bei 150, die Kehren 46 und 45 liegen zügig hinter mir. Ich fühle mich gut.
Steigungen
überleben
Es geht in den Wald. Ich kann in der Ferne noch das Wüten der beiden Supermotos hören, die Abgasfahnen der fett eingestellten Einzylinder verdunsten im leichten Nebel nur langsam. In Kehre 44 liegen erneut bunte Motorradfragmente – scheint ein ereignisreicher Tag gewesen zu sein. Die Steigung aus der 44 ist mächtig und fährt mir feurig in die Schenkel. Normalerweise entsichere ich hier meine Motorräder – heute, auf dem MTB, habe ich genügend Zeit, um mir die frischen Risse in der ehrwürdigen Fahrbahn anzusehen.
Puls 160. In der 43 liegen, unter Grünzeug versteckt, mehrere Plastikflaschen. Da hat sich ein Naturfreund richtig Mühe gegeben. Ich rolle durch die beiden Linkskurven, die eine von Lawinen in den Wald gerissene Schneise queren. Mit dem Motorrad fährt man hier – wenn man es kann – eine einzige Kurve. Ich nutze das Flachstück für eine kurze Erholung, ehe ich um die nächste Kehre trete. An ihrem Ende geht es scharf nach links, vor meinem geistigen Motorradauge kommt mir hier stets der Linienbus entgegen – heute auf dem Fahrrad wundere ich mich, wie breit das alles hier doch ist.
Höhenmeter
sammeln
Der Höhenmesser ruckelt – der Wald verdeckt wohl das GPS-Signal. Die Straße fühlt sich im Sattel des Fahrrads ganz anders an. Bodenwellen, die das Motorrad gern aushebeln oder Spurrillen, die an der Linie zerren, sind auf dem Fahrrad nicht zu spüren. Dafür klopft jedes kleine Steinchen ans Gesäß. Dass die ganz außen gefahrenen Kehren flach, gefühlt sogar bergab verlaufen, erstaunt mich, das habe ich auf dem Motorrad noch nie bemerkt. Diese wenigen keine Kraft verlangenden Meter sind eine erholsame Wohltat und gern genommen.

Aufwärts, immer an der weißen Linie entlang
Puls 170. Der Abschnitt am „Weißen Knott“ ist steiler als erwartet, ich fahre die Kette wieder ganz links. Kurz zuvor passiere ich den Gedenkstein für einen verstorbenen Radfahrer, dessen Weg hier mit 44 endete. Das macht nachdenklich – ich bin vor kurzem 45 geworden.
Nach dem Weißen Knott öffnen sich Straße und Landschaft. Zur Rechten wird der Wald lichter, zur Linken glänzen Schneemassen vom Ortler, es scheint, als beleuchte der Gletscher das Tal. Noch vor 25 Jahren war es hier einspurig und schwindelerregend.
Blick
auf die Gletscher
Die folgenden Kilometer vergehen wie im Rausch. Meine Beine arbeiten gleichmäßig, Puls 155, 800 Höhenmeter bis jetzt. Ich schicke die Nummern der vorbeiziehenden Kehren per SMS an meine Partnerin, bin irgendwo bei den mittleren 30er Kehren. Nach einigen gedankenleeren, relativ leicht zu schaffenden Steigungen lese auf einem Begrenzungsstein „2000 m s.l.m.“.
Kehre 29 – einer meiner Lieblingsplätze. Ich stoppe, um den Blick auf die andere Talseite zu genießen. Schweiß rinnt mir in die Augen, kalter Wind zieht durch die Helmöffnungen und trocknet meine Haare. Ich schlüpfe in die warme Jacke und denke an die Abfahrt. Es ist 20.15 Uhr, der Tag vergeht. Die App meldet 950 Höhenmeter – eine unschöne Zahl. Ich esse den Rest eines Energyriegels und schwinge mich auf mein Cube.

Stilfserjoch mit dem Fahrrad – ein Knochenjob
Im Wiegetritt und mit einer heute noch nicht gefahrenen Übersetzung kämpfe ich mich durch die beiden nächsten Serpentinen. Puls 170, Feuer in den Oberschenkeln, meine Lunge platzt – kurz nach Kehre 27 sind meine Körner am Ende.
1000
Höhenmeter
Nachdem ich die ersten 100 Höhenmeter auf dem Anstieg nach Tschengls gerade so überlebt habe, nach dem harten Kampf gegen die 500 hoch zur Bergstation der Laaser Schrägbahn sind nun die 1000 gefallen. Und dies ausgerechnet auf der Stilfserjoch-Ostrampe.
Nun im Visier: Kehre Nummer 24 – die Hälfte des Ganzen. Liegt zwar nur drei Kehren weiter oben, aber für heute drehe ich das Cube talabwärts und lasse mein Gewicht wirken.
- Stilfserjoch – mit dem Fahrrad
- Ultracycling – Fahr‘ weiter als der Rest
- Stilfserjoch mit dem Fahrrad: 100 Höhenmeter
- Stilfserjoch mit dem Fahrrad: Die letzten 4 Kehren