Talsperren im Vinschgau

MotorProsa: Talsperren im Vinschgau

Zu Besuch bei den größten Talsperren im Westen Südtirols – eine Tour zu romantischen Seen, die nur selten romantische Geschichten erzählen. Eine erstklassige Moppetprosa-Motorradstory – alle gezeigten Fotos von moppetfoto.de, Text von mir.

Das Symbol von MotorProsa: die Füllfeder. Motorrad-Geschichten, geschrieben mit Passion

Diese Story erschien – gekürzt und leicht überarbeitet – in der MOTORRAD, Europas größter Motorrad-Zeitschrift, Ausgabe 14/2021 (Juni 2021).


Südtirol – verschwindet die dunkle Schlucht der Finstermünz im Rückspiegel, dann öffnet sich am Dorfausgang von Nauders ein weites Tal, und Österreich entlässt den Reisenden über ein schnurgerades Asphaltband in die Wärme des italienischen Südens. Ein paar Augenblicke später füllen in der Ferne die höchsten Bergriesen und ein paar Meter neben dem Vorderrad der größte See Südtirols das Panorama. 

Der Reschensee lehnt sich beidseits an den Berg: im Spätsommer hochstehend, bis zu 30 Metern tief und schiffbar oder im Winter tiefliegend, gefroren und spektakulär von Snowkitern befahren. Der Kirchturm, der auf halber Strecke aus dem Nass ragt, reizt zum Fotostopp – und außerhalb der Hochsaison gibt’s auch genug Platz dafür.

MotorProsa: Talsperren im Vinschgau - Pause am Reschensee

Pause am Reschensee

Warum sich hier ein Turm einsam seine Fundamente wässert, wird wenig später offensichtlich: ein schlanker, knapp 470 Meter langer Staudamm, ein Wall aus festgewalzter und betonverkleideter Erde, erhebt sich 30 Meter über die Ortschaft St. Valentin auf der Haide. Der scharfe Vinschger Wind peitscht nicht nur das Wasser des Sees über 6,5 Kilometer, sondern bläst auch Motorräder auf der befahrbaren Dammkrone in Schräglage. Bei seiner Fertigstellung war dies der erste große Staudamm Italiens und einer der größten in Europa.

Der Turm wurde zum Monument gnadenloser Technisierung und ist der traurige Rest des Dorfes Alt-Graun. Dem Strombedarf der norditalienischen Industrie ordnete man ab den 1930er Jahren auch in Südtirol Mensch und Landschaft gnadenlos unter und ließ die Gewalt der Wasserkraft über Orte und Bewohner hereinbrechen. Damit nicht genug, forderte der See im August 1951, kaum fertiggestellt, über 20 Menschenleben, als ein Linienbus von der Uferstraße abkam und in die Fluten stürzte. 

Dramen
 am gestauten Wasser

Zahlreiche Wege rund um den See erlauben romantische Blicke auf das Wasser, verrückte Surfer und das einzige Linienschiff Südtirols – aber mit dem Wissen um die hier stattgefundenen Dramen gelingt es selten, sich unbeschwert durch die perfekt einsehbaren und von den Locals gerne auf dem Knie genommenen Kehren der Malser Haide zu schwingen. Hier im äußersten Westen Südtirols wird superlativer Boden befahren: dies ist der größte Schwemmkegel der Alpen, vermutlich durch einen gigantischen Erdrutsch entstanden – und Grund für das Vorhandensein der ehemals drei Seen im Vinschgauer Oberland. Naturkatastrophen und menschliche Rohheit ermöglichen also heute einzigartige Fahrerlebnisse im Schatten des Ortlermassivs.

MotorProsa: Talsperren im Vinschgau - Am Reschensee

Wir lassen den Reschensee hinter uns

Knapp 16 km später begegnen wir dem Wasser des Sees erneut: nach seinem Weg durch dunkle Stollen schießt es kurz vor Schluderns durch die „Zentrale“, das E-Werk von Montecatini. Dicke Betonmauern und das laute Surren des Elektrizität in der Luft geben einen Eindruck davon, mit welcher Kraft das Wasser tief im Berg auf die Turbinen stürzt. Vor dieser kolossalen Krafthalle symbolisiert ein Reiterstandbild den Sieg des Menschen über die Natur – und erwähnt den dafür bezahlten Preis nicht …

Südtirol – Land der Berge, Land der Wasserkraft: an den Seiten des Vinschgaus stehen alte, auffällige, eigentlich auch wunderschöne Gebäude, die von Stromkabeln umwoben sind und von dicken Druckleitungen aus den Bergen gefüttert werden: die Großkraftwerke Laas, Kastelbell und Naturns, die parallel zu den Talsperren und Stauseen in den 1950er Jahren entstanden. Die kleinen, in weitaus höherer Zahl vorkommenden privaten Kraftwerke bleiben unsichtbar.

Rechts der Etsch, dem Fluss, dessen Wasser immer wieder gestaut und wieder freigelassen wird, führt das Martelltal hoch in die wilde Gletscherwelt des Ortlergebiets, flankiert von steilen Bergwänden und durchzogen von der friedlich vor sich hin fließenden Plima. Handliche, kräftige Motorräder sind hier in ihrem Revier – die wenigen Geraden werden von unterhaltsamen Kurvenkombinationen unterbrochen, und die nahtlos ineinander übergehenden Spiralkurven entthronen selbst die Serpentinen des nahegelegenen Stilfserjochs. Und während Tausende von Motorradfahrern nichtsahnend am Taleingang vorbeifahren und sich durch den Vinschgauer Verkehr quälen, wissen es die Einheimischen besser, und genießen – egal, ob auf Sportlern, Cruisern oder Enduros, das Schwingen durch diese beinahe kitschig schöne Landschaft.

MotorProsa: Talsperren im Vinschgau - Im Martelltal

Kehrenspaß im Martelltal

Knapp 30 Kilometer ist der Talschluss entfernt, der dritthöchsten Berg der Ortler-Alpen, der Cevedale, toppt das Geschehen. Zu Beginn geht es zügig durch wie mit dem Lineal gezogene Apfelplantagen, die Straße steigt steil und kurvig an, und es wird klar, weshalb hier bis 1989 regelmäßig spektakuläre Bergrennen stattfanden.

Nach der halben Strecke und zwei scharfen Serpentinen mäandert dann nur noch ein schmaler Pfad durch dichten Wald, zirkelt um riesige Findlinge und kreuzt hochalpine Erdbeer-Felder. Lamas grasen rund um Indianerzelte, den Kontrast dazu liefert in Sichtweite ein hochmodernes Biathlon-Zentrum – und plötzlich steht, wie aus dem Nichts, eine Betonkonstruktion epischen Ausmaßes quer im Tal: über 80 Meter hoch ragt die Staumauer des Zufritt-Sees in den Himmel und zerteilt das bis hierher gefühlt unberührte Tal grob in zwei Teile. Die Bergriesen, in dessen Flanken sich die Mauer rammt, haben gegen den gewaltigen Eindruck, den die schräg stehenden und Dutzende Meter breiten Stahlbeton-Streben hinterlassen, keine Chance.

Derbe Konstruktionen
 in ursprünglicher Natur

Mit hunderttausenden Tonnen Gewicht stemmt sich die Talsperre gegen den 70 ha großen See und hält seit Mitte der 1950er Jahre auch die bisweilen wütende Plima im Zaum. Trotzdem blieb eine Katastrophe nicht aus: im Sommer 1987 mussten die Schleusen aufgrund heftiger Regenfälle notgeöffnet werden, um ein Überlaufen des Sees abzuwenden – und ließen sich erst viel zu spät wieder schließen. Die Fluten zerstörten zahlreiche Häuser und verursachten immense Schäden ..

Acht zernarbte Kehren liegen auf dem Weg, um aus dem Talboden auf die Höhe der Mauer-Krone zu gelangen und der Uferstraße, die stellenweise den engen Balkonstraßen des französischen Vercors ähnelt, folgen zu können. Wieder übernimmt eindrucksvoll wilde Natur die Regie über die Eindrücke, bevor weitere acht herausfordernde Serpentinen den Motorradfahrer ans Ende der befahrbaren Straße bringen. Ab nun geht es – wenn überhaupt – nur zu Fuß weiter.

Zurück im Vinschgau, öffnet sich ein Dutzend Kilometer vom Eingang des Martelltals entfernt auf der linken Talseite ein scharf in den Berg geschnittener Spalt. Zuviele Steinschläge erzwangen hier den Bau eines Tunnels, und der verhindert jetzt den Blick auf Reinhold Messners Schloss Juval. Dafür entschädigt wenig später die erlebnisreich angelegte Straße mit tiefen Blicken in die Schlucht des Schnalser Bachs. Wenige, einige davor dramatisch auf Bergspitzen gesetzte Dörfer fliegen vorbei und hemmen den Vorwärtsdrang des Motorrads nicht. Steile Rampen, die spektakulär am Berg hängen, wechseln sich mit flachen Strecken durch sattes Grün ab.

MotorProsa: Talsperren im Vinschgau - Unterwegs im Schnalstal

Auf dem Weg ins Schnalstal

Hier leben nur knapp 1.300 Menschen – das macht diese Gegend zum am dünnsten besiedelten Tal Südtirols. Erst der Ort Unser Frau liegt beidseits der Straße und mahnt zu Zurückhaltung am Gasgriff – was angesichts der sechs bestens ausgebauten Kehren am Dorfausgang etwas schwer fallen mag. Über sie wird der 65 Meter hohe Staudamm des Vernagt-Sees erklommen, und hier drücken sich keine grauen Betonmassen wie in Martell in den Vordergrund, sondern ein seltsam gleichmäßiger und grün bewachsener Schräghang.

Verluste von
 Gebäuden und Existenzen

100 ha kristallklares Wasser spiegeln die Berge der Ötztaler Alpen wider – die Uferstraße führt scharf an der Wasserkante vorbei, und bei niedrigem Wasserstand ragt auch hier ein Kirchturm aus dem See. Zwar weit weniger bekannt als sein Pendant im Reschensee, nimmt ihm dies nichts von der Dramatik – denn auch hier versanken Gebäude und Existenzen in einem künstlichen See, und dessen smaragdgrüne Farbe täuscht über die Verluste der ehemaligen Bewohner erschreckend freundlich hinweg.

Auch das hier gesammelte Wasser macht sich durch den Berg auf den Weg ins Tal, durch unvorstellbar komplizierte Stollen und Anlagen, und stürzt in Naturns über eine zwei Kilometer lange, am Fels sichtbare Druckleitung auf drei Turbinen. Es drückt im Jahr über 300 Mio. kWh in’s Stromnetz und ist so das größte Hochdruckwasserkraftwerk Südtirols.

Derartig viel Power ist für die Fahrt nach Kurzras, eine Handvoll Kilometer hinter dem See gelegen, der letzte Ort des Tals und ein wenig attraktiver Skirummelplatz, nicht mehr nötig. Angesichts der abgewitterten Hotelbauten und der Seilbahn, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hat, ist die Fahrt über die verlassene Schnalstaler Straße und durch die braungefärbte, enge und steile Schlucht zurück in den Vinschgauer Apfelgarten ein spannender, fast schon elektrisierender Genuss.

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2 Gedanken zu „Talsperren im Vinschgau“

  1. Hallo Jürgen,
    die Geschichte hat mich schon in Papierform in der MOTORRAD erfreut.
    (Damit sind bei mir ganz besondere Erinnerungen, besonders Schnalstal, verbunden).
    Habe sehr gerne auch hier nochmal gelesen!
    Danke und Gruß
    Rolf
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  2. Wie immer sehr schön geschrieben und mit ebensolchen Bildern garniert! Well done!

    Das Martell Tal mit seinen sehr engen schnell wechselnden Kurven hat mich mehr als einmal aus dem Tritt gebracht, da half auch der Blick auf deine Linie nicht mehr!
    Ein schönes Ziel das ich nächstes Jahr unbedingt wieder unter die Räder nehmen muss!

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