Eine Reise bedeutet nicht immer Ferne. Unentdecktes, Faszinierendes liegt manchmal quasi ums Eck, und wir suchen gerne danach. Ein Wochenend-Ausflug in das Tal des Prosecco – und ein Besuch des Monte Grappa, dem Heiligen Berg Italiens.
Ich bin in Schluderns, im Schatten des Ortlers, aufgewachsen – aus meinem Kinderzimmer hatte ich immer freien Blick auf den vergletschterten Gipfel des Beinahe-4000ers. Bergsteiger bin ich keiner geworden – hohe Berge faszinieren mich zwar, aber nur, wenn sie befahren werden können.
Im Sommer 2019 standen wir – bei Traumwetter – auf dem Mont Ventoux, dem Giganten der Provence. Vom Berg der Winde blickten wir bis nach Avignon und erkannten in der Ferne das Azur des Mittelmeers. Im Jahr darauf staunten wir vom Zwilling des Mont Ventoux, dem Montagne de Lure, hinab in die wilde, vom Lavendel eingefärbte Drôme. Und fanden am Berghang, zwischen uralten Bäumen, einen verlassenen Kraftort: die ehrwürdige Abbaye Notre-Dame de Lure. Das Hinweisschild an der Straße verblich in der provencalischen Sonne über die Jahre und wurde weiß wie der Stein der Lure – unsere Neugier hat uns trotzdem zu ihr geführt.
Zuhause studieren wir die heimische Landkarte: am südlichen Ende der Dolomiten fällt uns der 1775 m hohe Monte Grappa ins Auge. Der Name des Bergs hat mit scharfem Destillat nur wenig zu tun, dafür wird in der an ihn grenzenden Hügellandschaft zwischen Valdobbiadene und Conegliano – und nur dort – Prosecco angebaut. Der echte.
Hohe Berge und Prosecco –
da müssen wir hin.
Der direkte, schnellste Weg würde durch den Vinschgau, ab Meran über die Autobahn nach Trient und von dort durch das Valsugana führen. Wir aber haben Zeit, wir machen eine gemütliche Tagesreise im Cabrio daraus und rollen ab Bozen durch das enge Eggental. Die Straße verläuft seit einigen Jahren leider in Tunnels – von den engen, schroffen Felswänden, die regelmäßig mit Geröll warfen, kann ich nur aus der Erinnerung an zügige Motorradfahrten erzählen.
Als Zwischenstopp haben wir das Lavazéjoch gewählt – den Besuch der auf dem Berg gelegenen Sternenwarte in Gummer verschieben wir auch dieses Mal auf ein anderes Mal. Und werden angesichts der Katastrophen-Landschaft, die an uns vorbeizieht, demütig: Ende Oktober 2018 wütete hier der Sturm Vaja, fällte Tausende von Bäumen, hinterließ eine schmerzhaft anzusehende Mondlandschaft.
Katastrophen
kreuzen unseren Weg
Die weitere Fahrt bringt uns ins Stava-Tal und nach Tesero. Nichts in dieser malerischen Ortschaft erinnert an die tödlichen Schlammfluten, die im Juli 1985 das Tal dem Erdboden gleich machten. 268 Menschen verloren ihr Leben, weil ein Bergwerks-Betreiber an der Sicherheit gespart hatte. Wir bleiben demütig und bewundern gleichzeitig die Lebenslust der Betreiber des Ristorante Roma, die zu Mittag einfachste, aber sensationelle Gerichte auftischen.
Wir überqueren den wunderschönen Passo Rolle und folgen der SS50 weiter in den Süden. Schier endlos und in unzähligen Kurven fällt das Asphaltband ins Tal, zwängt sich, gemeinsam mit gestautem Wasser, durch enge Schluchten und Tunnel.
Unweit von Feltre erhebt sich der mächtige Grappastock – fast bedrohlich. Ein natürliches Bollwerk, der letzte Gipfel vor der weiten venezianischen Ebene, die bis an die Adria reicht. So gewaltig der Berg ist, so schmal zeigt sich die Straße, die wir ab Seren del Grappa folgen. Der dichte Wald legt sich über die an zahlreichen Stellen abrutschende Fahrbahn – mir kommen Zweifel, ob wir hier richtig sind. Über Dutzende Kilometer geht es steil bergan, bevor sich die Vegetation langsam lichtet.
Obwohl wir ins Helle fahren, werden meine Gedanken immer düsterer. An diesen Hängen fielen im Ersten Weltkrieg in bitteren Schlachten zehntausende Soldaten. Spuren dieser dunklen Zeit lassen sich auf der Fahrt zum Gipfel zahlreich entdecken: Schützengräben, verfallene Kasernen und ein Netz von Militärpfaden, in den Berg versinkend und mit dem Gelände verwachsend.
Wir nähern uns dem Gipfel. Erst auf dem zweiten Blick entdecken wir beim Erklimmen der breiten Treppe, die vom Parkplatz wegführt, Kapellen, Fahnenmasten, Gedenktafeln, Geschütze. Und wir werden mit jedem Schritt die Treppe hoch stiller und langsamer.
Angekommen
auf dem Heiligen Berg
Der Monte Grappa gilt seit den 1930er Jahren als Heiliger Berg – er darf nur zu Fuß betreten werden. Das von den Faschisten errichtete, monumentale Ossarium auf seinem Gipfel ist die letzte Ruhestätte für über 12.000 italienische und mehr als 10.000 österreichische Soldaten. Unvorstellbar. Der Weg über geborstene Platten aus weißem Stein fällt schwer. Wir halten vor den Gedenktafeln inne, bleiben angesichts der zahllosen Namen erschüttert, sprachlos und wie gelähmt zurück.
Die Tricolore weht hier nicht ohne Grund …
Wozu der Mensch
fähig ist …
… wird an wenigen Orten so erlebbar wie hier. Wir stehen auf den Treppen des gigantischen Denkmals, drehen uns immer wieder um, glauben, die buchstäblich in den Himmel schreiende Tragik des Krieges hören zu können. Tausende Namen, Zehntausende Schicksale, unendliches Leid. Wieviele Gedanken der Trauer und der Sehnsucht, des Vermissens und die Wut über die Sinnlosigkeit eines Krieges treffen sich noch heute hier oben? Welchen Wert haben militärische Ehren für die Gefallenen, wenn den Hinterbliebenen nur Namen im Stein bleiben?
In Streiflichtern der Abendsonne fahren wir die lange Strecke vom Gipfel nach Bassano hinunter, lassen unsere dunklen Gedanken im warmen Fahrtwind und beziehen in der Nacht unser Hotel in Valdobbiadene.
Unser Hotel in Valdobbiadene
Ein altes Gemeindehaus, ein „Municipio“, gibt uns gepflegten Luxus. Wir dürfen feine Häppchen genießen, vom „cameriere“ im stilvollen Anzug serviert und mit leisen Worten erklärt. Im Glas perlt feinster Prosecco – alleine das Riechen daran ist magischer Moment.
Das Frühstück mit Früchten, Lachs, Säften und Leckereien steht dem in Nichts nach. Von der Hotelterrasse blicken wir auf eine faszinierende Hügellandschaft, die weit in den Osten zieht, hinüber bis nach Conegliano. Seit der Antike wird in dieser Gegend Wein angebaut – eine Hangseite ist immer südlich ausgerichtet, so haben die Weinberge Sonne im genau richtigen Maß. Der nur hier, in 15 Gemeinden, produzierte „Prosecco“ wird 1772 erstmals schriftlich erwähnt, das gesamte Anbaugebiet ist seit 2019 UNESCO Weltkulturerbe.
Valdobbiadene ist Ausgangspunkt der Weinstraße „Strada del Prosecco e Vini dei Colli Conegliano Valdobbiadene“. Entlang der gesamten Route laden Weinkellereien zum Einkehren ein, wir verlieren uns in den engen Pfaden durch die Reben und genießen die Blicke von den Hügeln. Es ist Herbst, aber die Trauben noch nicht reif genug – zum Ausgleich schwebt der herrliche Duft von gebratenen Kastanien durch die Luft.
Die Prosecco-Hügel rund um Valdobbiadene
Nach ungezählten, von Weinreben beschatteten Kurven erreichen wir Conegliano, die zweitgrößte Stadt der Provinz Treviso. Die Altstadt lädt uns zum Flanieren ein, entlang an Renaissancepalästen, und wir wandern über einen malerischen Fußweg hoch zur Burg, dem Wahrzeichen von Conegliano. Dort eröffnet sich uns ein herrliches Panorama – es reicht von den fernen Dolomiten bis zur glänzenden Lagune von Venedig.
In einer schmalen Gasse finden wir ein kleines Ristorante mit einer unwiderstehlichen Speisekarte. Wir lassen uns – obwohl nach unserem Besuch mehr als gut gesättigt – noch zwei Gläser mit Enten-Sauce für die Pasta einpacken.
Eindrücke aus Conegliano
Für die Rückfahrt, die angesichts der Genüsse der Region schwer fällt, halten wir uns nordwärts – wir wollen den Passo San Boldo befahren. Er liegt auf einer Höhe von nur 706 m und ist auf maximal 30 km/h beschränkt – die aber kaum zu erreichen sind. Denn seine einzigartige Südrampe führt am Talschluss eine nahezu senkrechte Felswand entlang, die einspurige Straße wendet sich in Felstunneln und zeigt sich herausfordernd für breite, unhandliche Fahrzeuge. Nicht das optimale Revier für unser Cabrio mit dem riesigen Wendekreis, aber ein eindrückliches Erlebnis.
Wie so viele Orte in diesem Landstrich erzählt auch der San Boldo eine bewegende Geschichte. Während im Ersten Weltkrieg an der Piave-Front die Schlachten tobten, bauten Pioniere der österreich-ungarischen Armee, Kriegsgefangene, Alte, Frauen und selbst Kinder der örtlichen Bevölkerung am Pass, um Artillerie und Nachschub an die Front zu bringen. Nach nur drei Monaten wurde aus dem gefährlichen Saumpfad ein technisches Meisterwerk: die „Straße der 100 Tage“.
Der Passo San Boldo – Die „Straße der 100 Tage“
Nach dem letzten Tunnel der Hunderttägigen Straße breitet sich das Piave-Tal vor uns aus, in der Ferne ragen die bleichen Dolomiten mächtig in die Höhe. Für die Heimfahrt nach Südtirol wählen wir den Passo San Pellegrino. Auch er ist wieder knapp 2000 m hoch, auch er wurde im Ersten Weltkrieg ausgebaut, und auch er zeigt interessante Steigungen, in denen wir den mit sich selbst kämpfenden Radfahrern Respekt zollen.
Zwei Stunden später sind wir wieder zurück im Vinschgau, im Schatten des Ortlers. Wir sind für ein Bergfahrt-Erlebnis und zwei Flaschen „echten“ Prosecco auf den Monte Grappa und nach Valdobbiadene gefahren. Im Gepäck finden wir dann aber auch tiefgehende Impressionen von Natur- und Menschenkatastrophen, spüren Demut und Zufriedenheit, erinnern Wundersames.