
Gedanken an gute Zeiten: Über 30 Jahre lang lebe ich nun schon das eine Ritual – mein Leder anziehen, in schweren Stiefeln zum Motorrad wanken, gespannt den Schlüssel ins Zündschloss stecken, den Motor starten. Tausend Mal genau so und doch jedes Mal anders. Ich nehme kurz den Helm ab und blicke zurück.

Einer der ersten Gedanken in den Jahren, in denen sich mein Motorrad den Stellplatz mit dem elterlichen Auto teilen musste, war stets „Hoffentlich geht das gut“. Nicht das Fahren, nein – aber in der engen Garage war beim Rangieren Zentimeter-Arbeit nötig, ein Umfaller wäre kostspielig geworden. Wichtiges Tool damals: Ein zur Seitenständer-Länge passendes Holzstück, um das Motorrad in der Senkrechten zu halten.
Was sollte auch schief gehen dabei? Beim Zerren an einem Motorrad, rückwärts durch eine nur einen Meter breite Lücke? Mit eingeklapptem Seitenständer?
Bloß
nicht umfallen!
Die Suzuki RGV 250 Gamma, ein schlankes Fliegengewicht, fand am einfachsten von Allen raus. Die rundum fette Yamaha FZR 1000 Exup aber schrammte mehrmals mit ihrem Auspuff über die Zarge des Garagentors, und natürlich: Die immer unglückliche Triumph Daytona T595 entglitt mir, drückte mit dem Kupplungshebel die perfekte Delle in den roten Autolack. Zwei Tage vor ihrem Verkauf …
Endlich im Freien, die nächsten Gedanken: Wohin jetzt? Auf schnelle Strecken, mit hohen Drehzahlen, oder lieber in kurze, knackige Kurven, die Arbeit am Lenker notwendig machen, mit tiefen Schräglagen belohnen? Will ich in die Kälte eines Passes oder in die flimmernde Hitze einer Stadt?
Die Antwort lautete fast immer „Ja“. Tausend Mal ließ ich mein Motorrad durch die Kehren der heimatlichen Pässe fliegen. Ich legte mich nach harten Bremsmanövern auf ein Knie, holte auf den Geraden tief Luft. Belohnte mich nach Dutzenden von Serpentinen hoch zum Flüela, zum Ofen, zum Umbrail und natürlich zum Stilfserjoch mit Cappuccino und später, in den dampfenden Talkesseln, mit kühlem Eis.

Liebste Unterwegs-Verpflegung, schon immer
Gute Tage voller Emotionen und Gedanken: Wäre es schneller gegangen? Und wo schräger? Wieviel später hätte ich bremsen können? Und wieviel früher wieder Gas geben? Und was ist eigentlich die Magie einer Kurve, die mich auf jeder Ausfahrt so fesselt?
Es gab auch Tage mit heftigen Erlebnissen – und dazu passenden Fragen: War das eine Rille im Asphalt oder bin ich gerutscht? Ist dies hier, bei diesem Verkehrsaufkommen, der richtige Spielplatz? Muss ich auf der verschmutzten Fahrbahn echt genau jetzt wissen, was die Reifen können? Wem außer mir machen die hohen Drehzahlen grad Freude? Meine ich, Rossi zu sein? Oder warum fahre ich über mein Können hinaus?
Kuriose Nebenwirkungen von Kaffee und Eis.
Gedanken
auf der Hausstrecke
Keine Strecke bin ich öfter gefahren als jene hoch zum Stilfserjoch. Es mag fahrerisch nicht der schönste Pass sein, hohes Verkehrsaufkommen und dessen Nebeneffekte sind nicht zu leugnen. Wenn Autos, Wohnmobile, Motor- und Fahrräder gemeinsam aufs Joch wollen, kann das leicht herausfordernd werden. Aber das Stilfserjoch ist und bleibt „meins“. Dieses Serpentinen-Paradies bietet mir komprimiertes Motorradfahren – keine 15 Kilometer von zuhause entfernt.
Der mich immer wieder einnehmende Kehrenswing läßt durchaus auch Gedanken zu: An die hier zu Ende gegangenen Leben, denen in blumengeschmückten Nischen in den Stützmauern gedacht wird. An die mächtige Kraft der Natur, die Berghänge ins Wasser des Trafoier Bachs stürzen lässt und einst stolze Brücken wie Spielzeug zusammenschiebt. An das ständige Kneten des Untergrunds am Asphalt, der sich wöchentlich anders zeigt.

Traumstraße und Kunstwerk: Das Stilfserjoch
Beim Tanzen durch die Tornanti denke ich an den irrsinnigen Aufwand, den es bedeutet haben muss, im Schatten des Ortlers einen Weg ins Veltlin zu schlagen. Wie schwierig es gewesen sein muss, den flachstmöglichen Verlauf im Wald und später im Fels zu finden. Ich denke an das jahrelange Schinden unserer Ahnen, um schließlich ein Meisterwerk fertigzustellen, das wohl die Wenigsten von ihnen dann genutzt haben werden. Heute fahren wir in einer knappen halben Stunde die 2000 Höhenmeter hoch, mühelos und bestens unterhalten.
Nur an das Stopp and Go zwischen 48 Kehren zu denken, wird dem Stelvio niemals gerecht. Es kann so gut wie alle Motorrad-Fahrsituationen abdecken, und ist für mich viel mehr ist als das.
Bloß
keine Schwäche zeigen!
Am Stelvio überkamen mich eine Zeitlang düstere Gedanken. Eine spezielle Kehre ist für mich für immer markiert. Ich habe es lange Zeit nicht für möglich gehalten, aber selbst beim Lieblings-Hobby, selbst auf der Lieblings-Strecke und unter prächtigstem Sonnenschein gibt es etwas, was an Dunkelheit nicht zu übertreffen ist.

.. abwärts ..
Motorradfahrer waren in meiner Jugend Helden für mich: Das waren Bändiger von Lärm- und Feuer speienden Maschinen, Herren über schwere Apparate mit Hebeln und Schaltern, deren Funktion ich nicht kannte. Respekteinflößende Leder tragende, cool aussehende Typen, die irgendwo außerhalb der Gesellschaft unterwegs waren. Mit geschlossenem Helmvisier wurden aus dem Bäcker, dem Zimmermann oder dem Bauer Outlaws mit der Macht über ein schweres Bike. So wollte ich auch sein, „irgendwann, wenn ich groß bin“. Auch, weil sich immer die coolsten Frauen um sie scharten.
Alleine?
Oder zu zweit?
Coole Frauen, genau. Ich hab einige getroffen – und zum Mitfahren eingeladen. Mehr als die mögliche Bremserotik faszinierte mich das notwendige weiche, ruckfreie und „richtige“ Fahren ohne Lastwechsel – um das Zusammenprallen zweier Helme zu vermeiden. Ein zufriedenes Lächeln meiner Begleitung am Ende einer Ausfahrt – für mich ein Geschenk.
Ich fuhr immer gerne mit Beifahrer: Schon auf der Suzuki RGV 250, die dann schwer arbeiten musste. Auch auf der schwachbrüstigen LS 650, die damit bereits im Stand überfordert war – aber mangels Auto hatte ich nie eine Wahl. Mit ihr brachte ich meine Partnerin nach Ligurien, Schneesturm und sintflutartige Regenfälle inklusive. Ich eroberte mit Begleitung die Steilwände am Gardasee – auf der fallsüchtigen, ungelenken Yamaha FZR ein Abenteuer. Ich querte mit der Ducati 748 und Sozia ganz Deutschland, fuhr dank gewichtiger Mitfahrerin auf der Triumph Daytona mein erstes Wheelie. Unfreiwillig natürlich.

Gerne auch zu zweit unterwegs
Ich war auch selbst Beifahrer, klar. Zum Beispiel auf der KTM LC4 Supermoto. Dabei lernte ich, dass gewisse Schmerzen für immer bleiben, sich in die Knochen brennen. Ich möchte an dieser Stelle allen meinen Passagieren für ihren Mut, ihr Vertrauen und ihre Ausdauer danken!
Nur für mich?
Oder auch für andere?
Motorradfahren ist ein herrlicher Spaß. Schon die kleinsten Maschinen schenken großartige Dynamik – „große“ Motorräder aber eröffnen neue Welten, nicht nur in Sachen Beschleunigung und Speed. Wer je an einem Literbike den Gasgriff zügig nach hinten gedreht hat, kann von Emotionen erzählen, von denen andere Verkehrsteilnehmer nicht mal träumen.
Setz Dich auf Dein Motorrad, fahre Deine Lieblingsstrecke – es wird Dir danach vielleicht nicht besser, aber auf jeden Fall anders gehen.
Seit den ersten Metern versuche ich, die Faszination Motorrad in Worte zu fassen. Zu Beginn führte ich ein einfaches Fahrtenbuch, ergänzt mit Notizen zum Erlebten. Mit dem ersten eigenen PC erledigte ich dies dann digital, und als ich irgendwann den Weg ins Internet fand, erzählte ich in Foren davon. Als frisch ausgebildeter Mediengestalter zog ich 2000 meine erste Website hoch: das theiner.net. Weil ich dafür eigene Bilder verwenden wollte, kam eine Digitalkamera ins Haus.
Mittlerweile sind daraus Tausende Posts in Foren und Social Media-Kanälen, über 30.000 Motorrad-Fotos und eine Handvoll Website-Relaunches entstanden. Ich habe mein Buch mit Erinnerungen an 25 schräge Jahre auf dem Motorrad veröffentlicht. MotorProsa.com generiert jährliche Zugriffe in sechsstelliger Höhe und meine Traumstraßen-Portraits werden in Europas größtem Motorradmagazin abgedruckt.

Geschichten aus der Kurve – Das Buch
Obwohl ich meist alleine auf einem meiner Motorräder unterwegs bin, fahre ich also immer auch für andere. Das gefällt mir.
Dramen,
Pech & Pannen
Als der Wunsch nach einem Motorrad am heißesten brannte und die Traummaschine zum Verkauf stand, hatte ich das Geld dafür nicht. Meine Bank, bei der ich seit der Geburt Kunde war, würde mir doch sicher unkompliziert helfen? Spoiler: Nein, würde sie nicht.
Ich lernte, mich in sehr viel Geduld zu üben. Für den im Grunde lächerlichen Kaufpreis musste ich in der Kreditabteilung vor zwei angetrunkenen Honoratioren einen Offenbarungseid leisten und meine Todessehnsucht (?) erklären. Obwohl ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag und zwei mehr als gut dotierte Nebenjobs vorweisen konnte, verlangten die Typen zusätzlich eine Bürgschaft – denn ich würde mich ja umgehend zu Tode fahren. Am Ende war ich mit der Beschaffung der Finanzierung länger beschäftigt als mit der Rückzahlung des Darlehens.
Gut – ich hätte zwei Monate warten und das Motorrad bar bezahlen können. Ich wollte aber sofort kaufen und vor allem fahren. Konsequenz: Nach Überweisung der letzten Rate wechselte ich die Bank und grüßte die kreditvergebenden Dorfgranden nur noch mit dem Mittelfinger.
Wenig überraschend – dieses wunderschöne Motorrad tat mir finanziell nicht gut: Ich stürzte nach einem halben Jahr, zerstörte dabei jede Menge teures Plastik und knackste mein Ego an. Zwei Motorschäden schlugen tiefe Breschen ins Kontor. Davon abgesehen – der Tankwart wurde mein bester Freund: 12 Liter Benzin auf 100 Kilometer waren ganz normal. Zusätzlich verbrannte das Bike zwei Liter Zweitakt-Öl auf 1000 Kilometer. Es war schon immer etwas teurer … aber rückblickend jeden Cent wert.
Technik
einst und heute
Als ich die Suzuki RGV vor fast 30 Jahren nach Hause fuhr, war sie eine kleine (sic!) Sensation: Made with the Grand Prix Spirit. Ein Alu-Rahmen wie aus der Vitrine, eine Bremse wie eine Betonwand, die Aerodynamik vom Feinsten. Reduziert auf das Wesentliche, mit wunderbaren Details, z. B. der aus dem Vollen gefrästen Einstellschraube für das Spiel am Kupplungshebel.
Elektrostarter hatte sie keinen, ließ sich dafür per Hand anwerfen. Fahrmodi? Elektronik? Einspritzung? Das war damals alles noch nicht erdacht – einzig automatisch gesteuerte Auslass-Schieber sorgten für einigermaßen Fahrbarkeit. Ausgerechnet diese Schieber sorgten für die zwei teuren Motorschäden.
Ihre Nachfolgerin – Yamaha FZR 1000 Exup – war ihr ganz ähnlich, allerdings in allem zwei Nummern größer und mächtiger. Und auch bei ihr galt: Sie trug noch echte Zeiger und Lämpchen im Cockpit, meine rechte Hand steuerte Traktionskontrolle und ABS. Entsprechend ging auch sie irgendwann zu Boden.

Trotz allem heißgeliebt: Triumph Daytona T595
Die Daytona T595 wagte sich mit ihrer multisensorischen Einspritzanlage einen Schritt zu weit in die Zukunft. 1998 fuhr ich eine dieser Soundmaschinen – leider mehr schlecht als recht, aber das lag nicht an mir. Die Briten bekamen die Programmierung der Einspritz-Software nicht hin: Gleichmäßiges Fahren ohne Konstantfahrruckeln war damit nie möglich. Meine T595 war in Sachen Motorlauf derartig verpeilt, dass sie von Triumph Italien schließlich gewandelt wurde.
Die „Ersatz“-955i lief dann wesentlich besser. Aber als sie bei Kilometerstand 15.000 in voller Fahrt den Steuerketten-Spanner von sich warf und mich in Motoröl einweichte, entschloss ich mich endgültig für den Kauf des Originals: Auftritt Ducati 748s.
Diese steht nun, mit über 90.000 problemlosen Kilometern auf dem Tacho neben der neuen Motorrad-Generation in meiner Garage. Nein, nicht neben einer V4-Panigale mit über 200 PS und MotoGP-Software, die mit und ohne Fahrer alle Stücke spielt. Sondern neben Alessandro Volta, dem vollelektrischen Roadster aus Kalifornien: Zero SR/F.

Motorradfahren: Klassisch …
Er macht alles anders: Alessandro hat keine Kupplung mehr und benötigt kein teures Zweitakt-Öl. Er benötigt überhaupt kein Öl mehr. Er muss nie zur Abgas-Kontrolle, verlangt nicht mal nach periodischer Wartung. Es reicht, einfach den „Zünd“schlüssel ins Schloss zu stecken und ihn booten zu lassen (tatsächlich, die Software muss erst hochfahren …), dann steht die Macht von 190 unfassbar kräftigen Newtonmetern Drehmoment zur Verfügung.

… und futuristisch. Schön, wenn man die Wahl hat.
Wohin
geht die Fahrt?
Es gibt noch ein weiteres Motorrad in meiner Garage: den mächtigen Road King von Harley-Davidson. Er ist fahrwerkstechnisch keine Sensation, schon mit der wenigen Leistung seines V2 überfordert. Also wird er im Winter 2023 ein neues Fahrwerk erhalten und dann den Weg nach Südfrankreich finden. Der Plan ist, durch die Schluchten des Tarn, der Ardeche und des Verdon zu bollern.
Der maximale Gegensatz zur Ducati-Dynamik oder dem leisen Zero-Motorradwandern.
Durch die Motorrad-Presse geistern Bilder einer Einzylinder-Ducati – eine Supermoto. Das wird sehr gefährlich für meinen Kontostand. Aus Kanada drängt die Damon HyperSport auf den Markt – ein elektrischer Supersportler mit bisher einzigartigen Features. Falls diese Maschine den Weg nach Italien findet, wird definitiv wieder ein Termin bei meiner Bank notwendig. Ob der Platz in der Garage reicht?
Man wird sehen – denn
Hey Jürgen – schön, von Dir zu lesen ! 30 Jahre Motorbikin‘ habe ich auch auf dem Buckel, eher mehr als 40 .. angefangen mit XT und SR, XJ und TDM, dann BMW 1100 S bin ich mittlerweile bei meiner zweiten Zero gelandet: SR/F. Sehr happy damit ! Ich wohne zwar bei weitem nicht so schön (pittoresk) wie Du, aber Motor-Prosa oder -Lyrik liegt mir auch am Herzen. Obwohl: mit dem Biken ist es wie mit Zazen: Du musst es TUN ! Also bis bald und immer guten Grip, Thomas aus Sinnersdorf/D
Der Road King bekommt ein neues Fahrwerk, na da bin ich ja mal gespannt, ob Du damit zufrieden bist nach der Reise durch die spannenden Landschaften Frankreichs!
Ich wünsche Dir schon jetzt viel Spass und konnte je gerade mit eigenen Augen die aufregenden Landschaften sehen und Deine Vorliebe für das Vercors mehr als nachvollziehen!
Und die 30 Jahre schaffst Du bestimmt!
Wieder ein wunderbar poetischer Bericht!
Wünsche Dir noch viele weitere zig Jahre auf dem Motorrad und unendlich neue „Erfahrungen“, die es sicherlich noch geben wird. Und uns noch viele weitere unsagbar ansprechende, inspirierende, nachdenklich machende, freudige Prosa von Dir!
Vielen Dank für Deinen Rückblick auf 30 Jahre auf dem Motorrad.
Liebe Elke,
vielen herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Er freut mich sehr, und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Danke Dir!!
Auf die nächsten 30 Jahre!
Na, DAS sollte doch möglich sein.
Danke, meine Lieber!!